STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945


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Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen

Oberbürgermeister Carl Böhmer

Carl Böhmer wurde als Sohn eines Brauereidirektors am 1. Dezember 1884 in Essen-Schonnebeck geboren. Nach der Schulzeit und einigen Bildungskursen absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei Siemens & Halske. In dem erlernten Beruf arbeitete Böhmer dann zunächst bei der Bochumer Knappschaftsverwaltung. Anschließend war er in den kaufmännischen Abteilungen von Zechenunternehmen tätig, erst bei Ewald Fortsetzung und dann bei Graf Bismarck. Während des Ersten Weltkrieges war er von August 1916 bis Mai 1918 Soldat. Für die Deutsche Erdöl-AG (DEA), der seit 1923/24 die Zeche Graf Bismarck gehörte, leitete er vor seiner Karriere im "Dritten Reich" die betriebliche Konsum-Anstalt.

Nachdem Böhmer zunächst dem deutschnationalen "Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten" angehört hatte, ging er relativ früh zur NSDAP. Er trat dieser Partei zum 1. März 1928 bei und erhielt die Mitgliedsnummer 80.329. Damit zählte er zu den "Alten Kämpfern" der NSDAP mit einer Mitgliedsnummer unter 100.000. Offenbar existierte gerade unter den Angestellten der Zeche Graf Bismarck eine ganze Gruppe früher NSDAP-Mitglieder. In der Ende der 1920er Jahre noch unbedeutenden NSDAP-Ortsgruppe Gelsenkirchens und im NSDAP-Bezirk Emscher-Lippe fungierte er zunächst bis 1930 als Geschäftsführer.

Im "Dritten Reich" gehörte er später zahlreichen nationalsozialistischen Nebenorganisationen und z.B. auch der SA an, wobei er in letzterer ab 1944 den Rang eines Standartenführers erreichte, was dem militärischen Rang eines Obersten entsprach. Wohl aufgrund seiner langen Zusammenarbeit mit dem NSDAP-Gauleiter Alfred Meyer, der seine Parteikarriere ja auch in der Gelsenkirchener NSDAP-Ortsgruppe begonnen hatte und auch Angestellter bei der Zeche Graf Bismarck gewesen war, avancierte Böhmer auf Vorschlag des Gauleiters nach der Machübergabe an die Nationalsozialisten mit der Entlassung der Politiker der Weimarer Zeit zum Gelsenkirchener Oberbürgermeister. Zunächst wurde er ab 7. April 1933 Staatskommissar für die Stadt Gelsenkirchen, dann ab 21. Juli kommissarischer Oberbürgermeister. Am 27. September 1933 wurde Carl Böhmer vor der Stadtverordnetenversammlung endgültig in das Amt des Oberbürgermeisters eingeführt. Die Funktion des Oberbürgermeisters, die eben bedeutete, daß Carl Böhmer Chef der gesamten Stadtverwaltung war, behielt er bis zur Befreiung der Stadt Gelsenkirchen vom Nationalsozialismus.

Wegen seiner wichtigen Funktion wurde Böhmer 1945 von der britischen Militärregierung in einem Internierungslager bis 1. April 1947 inhaftiert. Bei der Entnazifizierung wurde Böhmer durch den (deutschen) kleinen Entnazifizierungsausschuß in Gelsenkirchen nach sehr sorgfältiger Untersuchung mit zahlreichen Zeugenvernehmungen am 18. Mai 1949 in die Kategorie III ("Minderbelastete") eingereiht, nachdem die britische Militärregierung zuvor am 1. April 1947 Böhmer nur in Kategorie IV ("Mitläufer") eingestuft hatte. Für den Ex-Oberbürgermeister bedeutete die Entscheidung des Gelsenkirchener Entnazifizierungsausschusses, der auch die Beteiligung Böhmers an der Zerstörung der Gelsenkirchener Synagoge als erwiesen ansah, neben beruflichen Beschränkungen vor allem einen Verlust des Pensionsanspruchs.

In dem dann eingeleiteten Berufungsverfahren zu seiner Entnazifizierung erreichte Böhmer zunächst nichts. Am 8. Juni 1949 bestätigte der Sonderbeauftragte für die Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen die Einreihung in Kategorie III. Auch der Entnazifizierungs-Berufungsausschuß entschied am 27. Oktober 1949 gegen die Berufung Böhmers. Schließlich wurde Böhmer dann mit der Entscheidung des Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen vom 1. Dezember 1950 doch entlastet und in Kategorie IV ("Mitläufer") eingereiht. Trotz dieser Entscheidung bemühten sich nun die Kommunalpolitiker und die Gelsenkirchener Stadtverwaltung, dem ehemaligen Oberbürgermeister alle Versorgungsbezüge zu verweigern.

Zur ausführlichen Diskussion im Haupt- und Finanzausschuß der Stadt Gelsenkirchen am 19. November 1951 hieß es beispielsweise in der Niederschrift: "Die Mitglieder des H.- und F.-Ausschusses waren jedoch der Ansicht, daß die Bevölkerung die freiwillige Zahlung einer Pension an B. nicht verstehen würde. Auch könne der H.- und F.- Ausschuß keinen Beschluß gegen seine Überzeugung fassen." Die Stadt Gelsenkirchen nutzte entsprechend alle Rechtsmittel, um Pensionszahlungen an Böhmer zu verhindern, wobei die Stadt grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der Ernennung Böhmers zum Oberbürgermeister verneinte. Als die Stadt 1952 vom Landgericht Essen verurteilt wurde, bis zur endgültigen Entscheidung regelmäßig einen Teilbetrag der geltend gemachten Pensionsbezüge an Böhmer zu zahlen, weigerte sich die Stadt zu zahlen. Bis zum Tod Carl Böhmers am 12. November 1960 blieb es bei der Weigerung der Stadt Gelsenkirchen, Zahlungen an Böhmer zu leisten. Von 1952 bis 1960 mußten die Gelder für Böhmer jeden Monat durch Zwangsvollstreckung, also Pfändung aus der Stadtkasse, eingetrieben werden. Nach dem Tode Böhmers wurden die langwierigen juristischen Auseinandersetzungen - noch waren drei Gerichtsverfahren nicht abgeschlossen - beendet, indem Böhmers Witwe, die die Prozesse offenbar nicht weiterführen wollte, und die Stadt Gelsenkirchen 1962 einen Vergleich schlossen.

Quelle: Stefan Goch "Mit einer Rückkehr nach hier ist nicht mehr zu rechnen" - Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des "Dritten Reiches" im Raum Gelsenkirchen, Essen 1999. Oberbürgermeister Carl Böhmer, S.43-45.


Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Juli 2017.

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