STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945


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Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen

Otto Plagemann

Der Finanzbeamte Otto Plagemann gehörte als NSDAP-Kreisleiter zur Führungsgruppe der regionalen Parteileitung und wurde deshalb nach dem Krieg wegen seiner Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes verurteilt. Die Begründung für die Revision war typisch für viele NS-Prozesse: Die Parteimitgliedschaft und die Ausübung von Führungsämtern seien nur Mittel gewesen, um "Schlimmeres" zu verhüten. Verantwortung für ihre Handlungen übernahmen nur die wenigsten. Noch am 7. April 1945, drei Tage vor der endgültigen Besetzung der Stadt, wandte sich der NSDAP-Kreisleiter Emscher-Lippe Plagemann mit einem "Durchhalteapell" an die Bevölkerung der "Frontstadt" Gelsenkirchen. Obwohl Buer und Horst schon von den Amerikanern befreit waren, glaubte Plagemann offenbar noch immer an den "Endsieg":

Durchhalteappell von Kreisleiter Otto Plagemannan die Gelsenkirchener Bevölkerung vom 7. April 1945

Abb.: Durchhalteappell von Kreisleiter Otto Plagemannan die Gelsenkirchener Bevölkerung vom 7. April 1945 (Institut für Stadtgeschichte (ISG) Gelsenkirchen)

Otto Plagemann war ab Juni 1941 NSDAP-Kreisleiter Emscher-Lippe und damit auch für Gelsenkirchen zuständig. Die Kreisleiter wirkten zum einen etwa bei der nationalsozialistischen Indoktrinierung im Rahmen politischer Versammlungen und Feiern mit. Zweitens hatten sie eine wesentliche Funktion bei der Überwachung und Einschüchterung der Bevölkerung. Die Kreisleiter wurden so zur Anlaufstelle für die weit verbreiteten Denunziationen, die sie entweder eigenständig sanktionierten oder an die Gestapo weiterleiteten. Nicht zu verkennen ist aber, daß sich die Kreisleiter auch als Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte der Menschen gerierten und als solche oft auch akzeptiert wurden. Nicht selten resultierten daraus etwa Interventionen der Kreisleiter bei Behörden, Firmen und Privatpersonen zugunsten der Bittsteller.

Einen besonderen Machtzuwachs erfuhren die Kreisleiter schließlich während des Krieges, insbesondere in den letzten Kriegsmonaten, in denen sie als „Kreisverteidigungskommissare“ anstelle der regulären Behörden als bevorzugte Exekutivorgane der zu fast allmächtigen „Reichsverteidigungskommissaren“ ernannten Gauleiter dienten. Ihre vielfältigen Aufgaben erledigten die Kreisleiter mit Hilfe eines sich zunehmend ausdifferenzierenden Stabs an ehren- und zunehmend auch hauptamtlichen Kreisamtsleitern und Bürokräften.

Plagemann, Otto: * 28.9.1903 in Goldberg/Mecklenburg; evgl., seit 1938 ggl.;
Beruf des Vaters Wilhelm: Stellmachermeister; verh. seit 25.8.1933 mit Elisabeth, geb. Burger, 4 Kinder.

Schule/Ausbildung/Beruf bis ca. 1933:
3 Jahre Bürgerschule in Goldberg, Privatschule bis Obertertia, dann Realgymnasium Güstrow (Obersekundareife).
Mecklenburgischer Steueraktuar-Anwärter ab 10.9.1919; von der neugeschaffenen Reichsfinanzver- waltung als Steuersupernumerar übernommen;
Obersteuersekretär ab 1.7.1925, tätig bei den Finanzämtern Parchim, Malchin (Mecklenburg), Schwelm u. (ab 1929) Recklinghausen; Beförderung zum Steueramtmann 1933.

Mitgliedschaften bis 1945:
Jungnationaler Bund 1921-1925, Stahlhelm 1927-1929; NSDAP ab 1.10.1929, Bereichsleiter seit 15.5.1941, Oberbereichsleiter seit 9.11.1943. SA ab Herbst 1929 bis 5/1936, Wiedereintritt als Sturmbannführer 9.11.1941, Obersturmbannführer ehrenhalber ab 20.4.1943;
NSV 1934-1945, RDB 1933-1945.

Posten in der NSDAP bis 1932/ Werdegang in Partei u. Beruf 1933-1945:
Im Parteidienst seit 1.11.1929, Kassierer; OGL; stellv. OGL, Leiter der Kreisbeamtenabteilung
10/1932, Adjutant des KL.
KL Recklinghausen-Land 1.5.1934 (faktisch ab 10/1933328) bis 31.12.1935.
KL Recklinghausen (Stadt u. Land) 1.1.1936 bis 2.6.1938.329
Beim Finanzamt hauptamtlich tätig bis 1938, zuletzt als Obersteuerinspektor (Einkommen 1937: 420 RM mtl.); hauptamtlicher KL ab 1.3.1938 (Einkommen 1938: 480 RM), 1938-1944 als Finanzbeamter beurlaubt; am 31.3.1944 als Finanzbeamter endgültig ausgeschieden.
KL Paderborn-Büren 3.6.1938 331 bis 9/1939 u. 2/1941 bis 6/1941,
im Wehrdienst 9/1939 bis 12/1940 (mtl. Einkommen 1939: 580 RM, 1941: 600 RM); offiziell im Amt bis 1942 (Vertreter in Paderborn-Büren ab 6/1941: Schöneborn u. Jerrentrup).
KL Emscher-Lippe 12.6.1941 bis Kriegsende (mtl. Einkommen 1942: 700 RM, 1943: 750-800 RM).

KVK II ohne Schwerter 1.5.1942, KVK I ohne Schwerter 30.1.1943, KVK I mit Schwertern 1943.

Gegen Kriegsende Flucht aus dem Ruhrkessel nach Mecklenburg, Arbeit als Ackerknecht; Aufenthalt in der sowjetischen Zone bis 7/1946; anschließend Tätigkeit als landwirtschaftlicher Arbeiter in den Kreisen Uelzen u. Hildesheim; Rückkehr zu seiner Familie nach Recklinghausen im Frühjahr 1947, freiwillige Meldung bei den Behörden; Internierung 5.7.1947 bis 14.2.1948 in Recklinghausen.

Spruchgerichtsbarkeit:
Verurteilung durch die 10. SpK/SpG Recklinghausen am 12.2.1948 zu 5 Jahren Gefängnis (volle Anrechnung der 7-monatigen Internierung).
Ab 14.2.1948 Haft in der Strafanstalt Esterwegen (voraussichtliches Haftende 4.7.1952).
Erfolgreiche Revision des Angeklagten.
Verurteilung durch die 4. SpK/SpG Recklinghausen am 14.9.1948 zu 1 Jahr u. 5 Monaten Gefängnis (Internierung voll angerechnet) sowie 2000 DM Geldstrafe.
Revision des Anklägers zurückgezogen.
Aufhebung des Haftbefehls auf Antrag des Verteidigers; daher Inhaftierung in Esterwegen nur bis 17.9.1948 u. Entlassung aus der Haft in Fallingbostel am 21.9.1948; Gnadengesuch Plagemanns vom 21.12.1948 um Aussetzung der Reststrafe von 2 Monaten u. 22 Tagen auf Bewährung sowie um Bewilligung von Ratenzahlungen zur Tilgung der Geldstrafe;
Aussetzung der Restfreiheitsstrafe unter 3-jähriger Bewährungsfrist sowie monatliche Ratenzahlungen von 30 DM am 13.4.1949;
Erlaß der Restfreiheits- u. Restgeldstrafe durch den MP NRW am 6.10.1954.

Entnazififizierung:
HA RB Münster 20.1.1950: Kat. IV, Ausschluß vom öffentlichen Dienst bis 20.1.1952, keine Vermögenssperre; Gebühr 50 DM.

Weitere Ermittlungs- u. Gerichtsverfahren:
Ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Paderborn 1948 eingestellt.
Schwurgericht beim Landgericht Paderborn 27.1.1949: Freispruch mangels Beweise vom Vorwurf der schweren Brandstiftung (Reichspogromnacht in Paderborn).
Ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Essen (Verhinderung des Hissens einer weißen Flagge beim Einmarsch der Alliierten) endete am 9.5.1950 mit Freispruch mangels Beweise.

Wohnsitz nach 1945:
1947-1950 in Recklinghausen (Dreizimmerwohnung bei seinen Schwiegereltern, sein eigenes Wohnhaus in Recklinghausen war beschlagnahmt); ab 12/1950 in Essen bis zu seinem Tode.
Beruf: Seit 11/1948 als Büroangestellter bei einem Steuerberater in Essen tätig (250 DM mtl. Einkommen; um 12/1950: 360 DM). Beruf laut Adreßbüchern: „Helfer in Steuersachen“, laut Meldekarte: „kfm. Angestellter“. † 22.2.1998 in Essen.

(BAB - BDC-Akte; BA Ko - Z 42 VI/ 626; HStAD - NW 1038/ 5368; StAM - Gauinspekteure/88, Bl. 6; NZ, Ausg. H/Recklinghausen 29.6.1938)

Quelle: Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe, Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang. Münster, 2003


Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. August 2017.

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