STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Verlegeort WILHELM NETZEL

JG. 1903
AUSGEGRENZT / DRANGSALIERT
SCHEIDUNG VERWEIGERT
ÜBERLEBT


HIER WOHNTE

Verlegeort AUGUSTE NETZEL

GEB. RAMER
JG. 1900
VERHAFTET 1944
ZWANGSARBEIT
FRAUENLAGER ELBEN
'ORGANISATION TODT'
BEFREIT


HIER WOHNTE

Verlegeort ELVIRA NETZEL

JG. 1933
GEDEMÜTIGT/ENTRECHTET
MIT HILFE ÜBERLEBT

Verlegung geplant 2026, Verlegeort: Katharinastr.5, 45896 Gelsenkirchen

Eintrag Wilhelm Netzel, Katharinastr. 5 im Adressbuch Gelsenkirchen 1934Abb.1: Eintrag Wilhelm Netzel, Katharinastr. 5 im Adressbuch Gelsenkirchen, 1934

Die Jüdin Auguste (Esther Gitel) Ramer, geb. am 27.04.1900 in Solotwina / Polen kam zu einem nich bekannten Zeitpunkt nach Gelsenkirchen. Wir wissen, dass sie ab etwa 1923/24 an der Polsumer Str. 265 im Haus des Gastwirtes Franz Grümer ein kleines Ladenlokal gemietet hatte, indem sie mit ihrer Teilhaberin Sophie Keller einen florierenden Textileinzelhandel betrieb. Vorwiegend wurden Bettwäsche, Tischwäsche, Gardinen, Bettfedern, Damen- und Herrenunterwäsche, Oberhemden und Textilien aller Art verkauft. Die Gewerbeanmeldung lief bis 1936 auf ihren Mädchennamen: Auguste Ramer. Nach Streitigkeiten um 1927/28 endete die Geschäftsbeziehung mit Sophie Keller. Auguste Netzel betrieb ab diesem Zeitpunkt den Textilhandel in ihrer neuen Wohnung im Haus des Milchhändlers Storck im Röttgerweg 14 alleine weiter. Neben dem Verkauf in einem Zimmer dieser Wohnung arbeiteten ständig mehrere Vetreter auf Provisionsbasis - vor Feiertagen bis zu Zehn - für Auguste Ramer.

Am 13. Januar 1933 heiratete Auguste Ramer den am 11. Dezember 1903 in Gelsenkirchen-Buer geborenen, nichtjüdischen Bergmann Wilhelm Netzel. Sie kündigte die Wohnung bei Storck und zog zu ihrem Ehemann, der dort bereits zur Untermiete bei Emil Bea in einer Zechenwohnung der Bergwerks AG, Recklinghausen, in der Katharinastraße 5 lebte. (1935 wurde die Bergwerks AG, Recklinghausen mit der Bergwerksgesellschaft Hibernia zur Bergwerksgesellschaft Hibernia AG fusioniert). Dort betrieb sie ihr Gewerbe zunächst noch weiter. Am 29. September 1933 wird die gemeinsame Tochter Elvira, genannt "Elvi" in Gelsenkirchen-Buer geboren.

Das Ehepaar Netzel lebten in einer so genannten "Mischehe". Im NS-Sprachgebrauch wurde der Begriff "Mischehe" abwertend und im Sinne einer "rassischen" Vermischung verwendet, um die Ehe zwischen einer als "arisch" geltenden Person und einer als "nicht-arisch", insbesondere jüdisch, klassifizierten Person zu bezeichnen. Diese als "Mischehe" bezeichneten Verbindungen wurden von den Nationalsozialisten als "Rassenschande" diffamiert und führten zu Verfolgung und Diskriminierung. So war auch die Familie Netzel von der Machtübergabe an die Nazis 1933 im gleichen Maße von den gegen jüdische Menschen gerichtete Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes betroffen, genauso wie die Ehepaare, bei denen beide Partner Juden waren.

Exkurs: Das so genannte "Blutschutzgesetz"

Im so genannten "Dritten Reich" verbot ab 1935 das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" (das so genannte "Blutschutzgesetz"), am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg erlassen, fortan Eheschließungen zwischen "Deutschblütigen" und Juden und stellte außereheliche Beziehungen zwischen ihnen als "Rassenschande" unter Strafe. Ehen zwischen Juden und "Ariern" waren nun verboten, vor 1935 geschlossene Mischehen wurden jedoch nicht zwangsweise aufgelöst. Nach der Pogromwoche im November 1938 setzte sich jedoch die Unterscheidung zwischen "privilegierten" und "nichtprivilegierten Mischehen" durch.

Als "privilegiert" galten nur Paare bei denen die Frau jüdisch (jetzt nicht mehr nach Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde, sondern im "rassischen" Sinne des NS- Regimes) und der Mann nichtjüdisch war, wenn sie keine oder nichtjüdisch erzogene Kinder hatten und Paare, bei denen der Mann jüdisch und die Frau nichtjüdisch war, wenn sie nichtjüdisch erzogene Kinder hatten. Familien in diesen Konstellationen durften in der bisherigen Wohnung verbleiben, und das Vermögen konnte auf den nichtjüdischen Partner bzw. die Kinder übertragen werden. Die jüdischen Ehepartner aus "privilegierten Mischehen" waren von der Pflicht zur Kennzeichnung mit dem gelben "Judenstern", die im September 1941 eingeführt wurde, ausgenommen. Auch wurden sie zunächst von den Deportationen zurückgestellt.

Durch die beständig zunehmenden Boykottmaßnahmen und Drangsalierung durch die NS-Ver- folgungsbehörden geriet auch der Textilhandel von Auguste Netzel immer tiefer in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Raten aus Abzahlungsgeschäften blieben aus, bei den Versuchen, die fälligen Summen zu kassieren, wurde Frau Netzel beschimpft und bespuckt. Ein großer Teil der vormaligen Kundschaft wollte ihre Außenstände nicht begleichen, da Frau Netzel Jüdin sei.

Auf Anraten ihres Rechtsanwaltes Böcker trat Auguste Netzel 1935 ihre Aussenstände aus ihrem Textilhandel an ihren Ehemann ab, um so doch noch an ihr Geld zu kommen. Schon bei der ersten Lohnpfändung 1940 gegen einen früheren Kunden namens Wintjes, der zwischenzeitlich in die SA eingetreten war, erschien dieser mit einigen SA-Leuten in ihrer Wohnung und bedrohte sie massiv. Um ihr Leben zu schützen, nahm Auguste Netzel daraufhin die Lohnpfändung zurück. Zwei Tage später erschien die Gestapo Buer bei ihr und beschlagnahmte die Geschäftsbücher, weitere Betreibungsversuche sollte Frau Netzel bei schwerster Strafandrohung unterlassen, zumindest bis zur Rückgabe der Geschäftsunterlagen. Das geschah natürlich nicht, die Unterlagen blieben verschwunden, daher gab es auch nach 1945 keine weiteren Versuche, die Außenstände beizutreiben.

Unterschrift Auguste Netzel, 1955Abb.2: Unterschrift Auguste Netzel, Brief an den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, September 1955

Um 1935 wurde auch der in der gleichen Wohnung in der Katharinastr. 5 in zwei Zimmern lebende Nachbar Emil Bea wiederholt von NSDAP-Mitgliedern aufgesucht, diese forderten in auf, nicht mehr bei Frau Netzel zu kaufen, da diese Jüdin sei. Im Wiedergutmachungsverfahren gab Auguste Netzel an: "(...) 1936 ist der Vermieter von der Hibernia-Zechenleitung und von der NSDAP-Ortsgruppe mehrfach aufgefordert worden, uns die Wohnung zu kündigen." Im November 1938 wurde im Zuge der Pogromwoche ihr Ehemann verhaftet aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Er war zu dieser Zeit auf der Zeche Bergmannsglück beschäftigt. Es ist davon auszugehen, dass Wilhelm Netzel vom NS-Regime zur Scheidung gedrängt bzw. gezwungen werden sollte, was dieser jedoch verweigerte. Aus Angst vor weiterer Verfolgung gab Auguste Netzel ihr Geschäft zum Ende des Jahre 1938 auf. Zuvor sah sich sich nach eigenen Angaben gezwungen, ihren restlichen Warenbestand zu 'Schleuderpreisen' abzugeben, um auf diese Weise zumindest ein wenig Umsatz zu generieren. Während des Krieges sollte Auguste Netzel auf Aufforderung ihrer Nachbarn die von ihnen gebauten Luftschutzbunker nicht aufsuchen.

Deportation und Befreiung

Zunächst noch von den Deportationen zurückgestellt, wurde dann auch Auguste Netzel von der Gestapo verhaftet, weil sie Jüdin war. Wie 35 weiteren jüdischen oder wie die Nazis es nannten "jüdisch versippten" Menschen in Gelsenkirchen wurde sie im Rahmen im Rahmen einer von Himmler angeordneten "Sonderaktion J" am 19. September 1944 in den frühen Morgenstunden von der Gestapo in ihrer Wohnung verhaftet, zunächst in das Gelsenkirchener Polizeigefängnis gebracht und dann von dort nach Kassel deportiert. Endgültiger Zielort des Transportes war das Frauenlager Elben der Organisation Todt (OT) im Landkreis Wolfhagen bei Kassel, Deckname "Saphir". Ein Teil der Frauen wurde in einem OT-Zwangsarbeitslager im nahegelegenen Kassel-Bettenhausen interniert. Nach der Ankunft in Kassel wurden Männer und Frauen getrennt und von Angehörigen der Organisation Todt übernommen.

Als amerikanische Truppen im März 1945 näher rückten, wurde die Lagerleitung angewiesen, die Frauen nach Osten zu deportieren, aber dieser Befehl wurde nicht mehr ausgeführt. Als amerikanische Truppen am Karfreitag 1945 bereits das wenige Kilometer weiter südlich gelegene Fritzlar umgingen, tauschte der Lagerleiter seine Uniform gegen Zivilkleidung und verschwand zusammen mit dem Leiter eines weiteren Lagers am so genannten Felsenkeller. Abends kam ein Trupp SS-Leute in das Dorf, und man fürchtete um die Sicherheit der Frauen im Lager. Mehrere von ihnen versteckten sich deshalb auf den Dachböden verschiedener Häuser oder im Lager der französischen Kriegsgefangenen. Am Vormittag des 31. März 1945, dem Karsamstag, zogen Soldaten der US-Armee von Süden her in das Dorf ein. Die Frauen, mit ihnen Auguste Netzel, waren - zumindest physisch - wieder frei.

Die so genannte "Wiedergutmachung"

Auguste Netzel stellte 1948 einen entsprechenden Antrag. Am Ende des Verfahrens im Jahr 1966 (!) bekommt sie, wie viele andere auch, so gut wie nichts, lediglich die Haft im Frauenlager Elben wird finanziell entschädigt. Der Antrag ihrer Tochter auf Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen aus dem Jahr 1958 wird 1962 abgelehnt.

Die Patenschaften für die Stolpersteine, die bald an Wilhelm Netzel und dessen Tochter Elvira erinnern, hat die Förderschule an der Bergmannsglückstraße übernommen, die Patenschaft für Mutter und Ehefrau Auguste Netzel hat Anke Sauerbaum übernommen.

Quellen
Entschädigungsakte beim Landesarchiv NRW/Abt. Westfalen, K204 Regierung Münster, Wiedergutmachungen Nr. 4429 (Auguste Netzel)
Mapping the Lives - Ein zentraler Erinnerungsort für die Verfolgten in Europa 1933-1945, https://www.mappingthelives.org (Abruf 7/2025)
Hausstandsbuch Katharinastr.5, StA Gelsenkirchen, StA GE, ISG.
https://elbenberg.de/geschichte/das-lager-im-tonloch-von-elben/ (Abruf 7/2025)
Abbildungen
1: Auszug Adressbuch Gelsenkirchen, 1934
2: Unterschrift Auguste Netzel im Wiedergutmachungsverfahren


Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. August 2025

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