STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


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HIER WOHNTE

Stolpersteine Gelsenkirchen ELIAS FINGER

JG. 1903
SEIT 1938 MEHRMALS
VERHAFTET
FLUCHT 1940 SLOWAKEI
MEHRERE INTERNIERUNGSLAGER
MIT HILFE ÜBERLEBT

Verlegeort: Im Lörenkamp 2


Elias Finger - Flucht und Odysee

Elias Finger, vor 1938Abb.1: Elias Finger, vor 1938

Der am 5. Januar 1903 in Rozniatow geborene Kaufmann Elias Finger wohnte Im Lörenkamp 2 in der Gelsenkirchener Altstadt. Im Erdgeschoß des Hauses führte er mit seiner Mutter, der Witwe Rosa Finger, ein Möbelgeschäft.

Ein weiteres Möbelgeschäft betrieb er zusammen mit seiner Schwester Sara, verheiratete Spiegel in Recklinghausen-Süd, Bochumer Straße 192, Vorbesitzer "Möbel und Aussteuer J. Schwarzkopf", des weiteren betrieb er in Süd ein Möbellager auf der Bochumer Straße 181. Die Kundschaft schätzte die preiswerten Angebote der Möbelhandlung Finger, bei der man anschreiben lassen oder in kleinen Raten abzahlen konnte. Elias Finger besaß in Recklinghausen-Süd an der Bochumer Straße zwei Häuser, Nr. 192 und 204. Das Möbelgeschäft Bochumer Straße 192 wurde in der Pogromwoche im November 1938 von einer SA-Horde aus Herne zerstört.[1]

Elias Finger übernahm 'Möbel und Aussteuer J. Schwarzkopf' in Recklinghausen-Süd

Abb.1: Elias Finger übernahm gemeinsam mit seiner Schwester Sara Spiegel (geb. Finger) die 'Möbel und Aussteuer J. Schwarzkopf' in Recklinghausen-Süd, Bochumer Straße 192 (Ecke Elisabethstraße). Die Firma wurde am 16. Dezember 1938 "von Amts wegen" gelöscht.

Den Höhepunkt der Pogromwoche im November 1938 erlebte Elias Finger in ihrer ganzen Brutalität und Menschenverachtung in Gelsenkirchen. In jener Nacht drangen die Nazi-Horden auch in das Haus am Lörenkamp ein, zerschlugen die Schaufenster des kleinen Möbelgeschäftes, zertrümmerten die dort ausgestellten Waren. Danach stürmten sie in die Wohnungen der Fingers, warfen das Mobiliar durch die Fenster auf die Kirchstraße und schlugen Elias Finger fürchterlich zusammen, so dass er an den Schlägen und Tritten beinahe gestorben wäre. Eine Zeitzeugin und ehemalige Bewohnerin des Hauses Am Lörenkamp 2 berichtete uns, dass man in jener Nacht noch lange seine Schmerzensschreie und sein Stöhnen hörte. Zeit seines Lebens litt Elias Finger an den Folgen der schweren Verletzungen. [2]


Nach diesem schrecklichen, traumatisierenden Erlebnis wollte Elias Finger Nazi-Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Im Dezember 1938 schloss er sich einer Gruppe von Gelsenkirchener Juden an, die sich durch einen Mittelsmann nach Belgien bringen lassen wollten. Dieser Mittelsmann hat die Menschen jedoch an die Gestapo übergeben. Elias Finger wird in der Folge zunächst in Krefeld und dann in Düsseldorf inhaftiert. An Heiligabend 1938 wird er entlassen. [2] Ein zweiter Fluchtversuch über die "grüne Grenze" nach Holland scheitert, bei Viersen wird Elias Finger am 31. Januar 1939 [3] festgenommen und nach Gelsenkirchen gebracht. Bis zum 6. Juli 1939 befindet er sich im Gelsenkirchener Polizeigefängnis. Nach der Entlassung wagt Elias Finger einen dritten Fluchtversuch, der ebenfalls frühzeitig scheitert. Bei Gronau wird er am 11. März 1940 verhaftet und kommt bis 1. April 1940 im Gefängnis Gronau in Untersuchungshaft. Weil er sich als "Staatenloser in der Grenzzone aufgehalten" hat, wurde er vom Amtsgericht Gronau am 2. April 1940 zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt, diese Strafe galt jedoch durch die Untersuchungshaft als verbüßt. Am gleichen Tag wird er freigelassen.[4]

Nachdem die Wehrmacht auch Belgien, Frankreich und die Niederlande besetzt hatte, war eine Flucht für Juden über diese Länder praktisch völlig aussichtslos geworden. Elias Finger hielt an seinen Fluchtplänen fest, wollte nun über Donau, Schwarzes Meer, Ägäisches Meer und Mittelmeer nach Palästina fliehen. Anfang Mai 1940 reiste er nach Wien, von dort weiter nach Bratislava in der Slowakei. Wieder wird er festgenommen, kommt in das Internierungslager Bratislava-Patrónka [5]

Im Internierungslager Patrónka warteten die jüdischen Menschen aus vielen Ländern Europas auf die Abfahrt des Flüchtlingsschiffes "Pentcho", ein alter Raddampfer, notdürftig "seetüchtig" gemacht. Am 20. Mai 1940 legte die "Pentcho" mit etwa 500 jüdischen Flüchtlingen an Bord ab. Mit knappen Heizöl-, Wasser- und Nahrungsmittelvorräten begann die beschwerliche Fahrt von Bratislava donauabwärts. Die Verhältnisse auf dem Schiff waren sehr beengt, durch fehlende sanitäre Einrichtungen herrschten katastrophale hygienische Verhältnisse.

Die Pentcho vor Chamilonisi

Abb.2: Die Fluchtroute der "Pentcho" über die Donau bis zum Schwarzen Meer

Die Fahrt über die Donau verlief mit vielen Hindernissen und Entbehrungen, so lag die "Pentcho" allein sieben Wochen vor dem "Eisernen Tor" fest, bevor ein Schlepper das Schiff durch das "Eiserne Tor" begleitete. Auch die rumänischen und bulgarischen Behörden verzögerten die Fahrt des Flüchtlingsschiffes.[6] In der Hafenstadt Ruse in Bulgarien musste die Pentcho einen weitern Zwischenhalt einlegen. Von den Passagieren eines anderen Flüchtlingsschiffes (die Uranus) werden die Menschen an Bord der "Pentcho" mit Nahrungsmittel versorgt. [7]

Am 21. September 1940 verließ die "Pentcho" nach Reparaturen an den Schaufelrädern den Hafen Sulina im rumänischen Teil des Donaudeltas am Schwarzen Meer. Um den 25. September passierte das Schiff den Bosporus und lief schließlich in der Nacht vom 9. zum 10. Oktober vor der Insel Chamilonisi im Ägäischen Meer auf Grund.

Die Pentcho vor Chamilonisi

Abb.3: Die "Pentcho" ist auf Grund gelaufen, die Flüchtlinge retteten sich auf das unbewohnte Eiland Chamilonisi.

Jüdische Flüchtlinge warten an Bord der Pentcho, nachdem das Schiff auf der Insel Kamilonissi (Chamilonisi) Schiffbruch erlitten hatte.

Abb.4: Jüdische Flüchtlinge warten an Bord der Pentcho, nachdem das Schiff auf der Insel Kamilonissi (Chamilonisi) Schiffbruch erlitten hatte.

In einem kleinen Rettungsboot versuchten fünf Männer, die rund 70 Kilometer südlich gelegene Insel Kreta zu erreichen. Am 5. Tag auf See wurde das Rettungsboot von einem britischen Aufklärungsflugzeug entdeckt und von einem britischen Zerstörer an Bord genommen. Über Funk wurde Hilfe angefordert. Darauf hin lief von Rhodos die italienische "Camogli" unter dem Kommando von Kapitän Carlo Orlandi nach Chamilonisi aus. Unter Einsatz ihres eigenen Lebens brachten Orlandi und seine Männer die Schiffbrüchigen am 16. Oktober nach Rhodos (damals unter Italienischer Besatzung), wo sie für mehr als ein Jahr in einem Internierungslager (KZ San Giovanni 'Campo di concentramento Rodos') eingesperrt wurden.[8] Die Flüchtlinge wurden dann nach Süditalien in das Internierungslager Ferramonti di Tarsia gebracht. Im September 1943 wird das Lager Ferramonti durch alliierten Truppen befreit. [9]

Einbürgerungsurkunde Palästina für  Elias Finger und Ehefrau Berta, geborene Mayer, 1947

Abb.6: Einbürgerungsurkunde Palästina für Elias Finger und Ehefrau Berta, geborene Mayer, 1947

Elias Finger ging nach der Befreiung aus dem Lager Ferramonti nach Rom. Sein weiterer Weg führte ihn dann nach Cádiz in Südspanien. Dort ging er im Januar 1944 an Bord des Flüchtlingsschiffes "Nyassa", das im Februar mit rund 750 Flüchtlingen den Hafen von Haifa erreichte.[10] Elias Finger war nach einer vier Jahre dauernden Odyssee endlich in Sicherheit.

Mitte der 50er Jahre stellte Elias Finger beim Gelsenkirchener "Wiedergutmachungsamt" einen Antrag auf Entschädigung für den erlittenen Freiheitsschaden. 1962 wird über den Antrag entschieden. Die Entscheidung wirft ein bezeichnendes Licht auf die seinerzeit gängige Entschädigungspraxis: Die Behörde erkennt lediglich die Haft im "Reichsgebiet" an, für diese 6 Monate Freiheiheitsentzug erhielt Elias Finger 900 DM. Elias Finger starb am 29. Januar 1964 in Tel Aviv, er wurde auf dem dortigen Kiryat Shaul Cemetery, Meir Binet Street beigesetzt.

Quellen:
[1]Vgl. Adolf Vogt, ein Stadtteil im Wandel der Zeit, 1992, S.147, Dank an Dr. Franz-Josef Wittstamm, Forschungen "Jüdisches Leben in Recklinghausen-Süd"
[2] Bescheid Bescheid der Landesrentenbehörde NRW der Landesrentenbehörde NRW v. 20.11.1958
[3] Auf einer Karteikarte der Geheimen Staatspolizei Münster, ausgestellt für: FINGER, Elias, geboren am 5.1.1903 in Rozniatow, Familienstand: ledig, Beruf: Kaufmann, Staatsangehörigkeit: staatenlos, Religion: mosaisch, zuletzt wohnhaft: Gelsenkirchen, Im Löhrenkamp 2, ist vermerkt: Datum der Auftragung: 9.2.1939; Sachverhalt: Finger wurde am 31.1.39 festgenommen, weil er den Versuch unternommen hat, bei Viersen / Krefeld die Grenze nach Holland illegal zu passieren. F. wurde dem Amtsg. in Viersen zugeführt. Datum der Auftragung: 29.6.1939; Sachverhalt: Gegen Finger schwebt die obige Strafsache bei der St. A. in Trier unter dem Aktenzeichen 5 Js. 63/39. (Dokument ID: 12532925 – Kartei Gestapo Münster. ITS, Arolsen)
[4] FINGER, Elias, geboren am 5.1.1903 in Rodzinatar, Staatsangehörigkeit: polnisch, war vom 12. März 1940 bis 1. April 1940 im Gefängnis Gronau, Landkreis Ahaus, inhaftiert, Gefangenen-Nummer: 78/40, Vermerk: Gestapo. (Dokument ID: 11359615 – Gruppe PP. (ITS, Arolsen)
[5] Bescheid Bescheid des Regierungspräsidenten Münster des Regierungspräsidenten Münster v. 18.1.1962
[6] Internierungslager Bratislava-Patrónka, EVZ Haftstättenverzeichnis. http://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/haftstaetten/index.php?action=2.2&id=100000287 (Abruf März 2013)
[7] Auf der Namentlichen Liste der jüd. Internierten auf der Insel Rhodos erscheint der Name FINGER, Elia, geboren am 5.1.1903 in Bozkiatow. (Quellenangabe: Dokument ID: 459296 – OCC 36/11 Ordner 1. ITS, Arolsen)
[8] Andrea Löw (Hsg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Band 3, Oldenbourg Verlag, 2012. S. 320-322
[9] Capitani coraggiosi: Carlo Orlandi. http://www.vaccarinews.it/index.php?_id=11571 (Abruf März 2013)
[10] Jürgen Rohwer, JÜDISCHE FLÜCHTLINGSSCHIFFE IM SCHWARZEN MEER (1934-1944) In: Ursula Büttner (Hrsg.): Das Unrechtsregime. Band 2: Verfolgung / Exil / Belasteter Neubeginn. Hamburg: Christians Verlag 1986. S.197-248. http://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/ksp/schwarzmeer/juden_flucht_schiffe.htm (Abruf März 2013)
[10] FINGER, Elias (keine weiteren Personalangaben) erscheint auf einer Namenliste von Personen, die von Caditz an Bord des Schiffes „Nyassa“ nach Palästina abgereist sind. (Dokument ID: 78789131 – Registrierung von ehemaligen Verfolgten in Spanien und Portugal - Listen betr. Personen, die zwischen 1944/45 durch Spanien reisten oder dort lebten. ITS, Arolsen)

Abbildungen:
1: Sammlung Jochen Weber
2: Yad Vashem, Israel
3: United States Holocaust Memorial Museum (UHSHMM)
4: Daniel Ullrich. Karte Donau, Wikipedia
5: Pentcho nach Schiffbruch, The river boat "Pentcho" on the shore of the Camilanisi Island. United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Rudolph Fellner and Anita Heufeld Fellner Collection, USHMM Photograph Number: 03520
6: Kopie: Dr. Franz-Josef Wittstamm
- Weitere Passagiere der "Pentcho", Karl Akiva and Ella Huppert Schwarz papers, USHMM, Document Accession Number: 2004.273.1

Stolperstein für Elias Finger, verlegt am 18. Juni 2021

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Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, STOLPERSTEINE Gelsenkirchen, März 2013. Editiert März 2020

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