STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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Verlegeort JÜRGEN SOMMERFELD

JG. 1941
"EINGEWIESEN" 20.7.1943
HEILANSTALT
DORTMUND-APLERBECK
'KINDERFACHABTEILUNG'
ERMORDET 9.8.1943

Verlegeort: Emscherstr. 41, Gelsenkirchen

Symbolbild

Abb.: Symbolbild Jürgen Sommerfeld, es existiert kein Foto von dem Kind.

Jürgen Sommerfeld, geboren am 11. Januar 1941 in Gelsenkirchen war ein behindertes Kind. Er war gerade zweieinhalb Jahre alt, als er am 20. Juli 1943 in die so genannte "Kinderfachabteilung" der Provinzialheilanstalt Aplerbeck in Dortmund aufgenommen wurde. Natürlich wusste der kleine Junge nicht, dass sich hinter dem Begriff "Kinderfachabteilung" eine Mordanstalt verbirgt, in der Kinder begutachtet und die so zur Tötung ausgewählten Kinder zeitnah umgebracht wurden.

Der Anstaltsunterbringung von Jürgen Sommerfeld wird polizeilich zugestimmt

Abb.: Der Anstaltsunterbringung von Jürgen Sommerfeld wird die polizeiliche Zustimmung erteilt. Zum Vergrößern anklicken

Die Zustimmung der Eltern, die offiziell Voraussetzung für die Tötung der Kinder war, wurde auf sehr zweifelhafte Weise eingeholt, meist wussten die Eltern nicht, was ihre Kinder erwartete. Die Bezeichnung „Kinderfachabteilung“ sollte bewusst den wahren Zweck der Einrichtungen vertuschen. Das wird auch Jürgens Mutter nicht gewusst haben, die den kleinen Jungen selbst von Gelsenkirchen nach Aplerbeck brachte. In der Patientenakte findet sich dann auch die Einverständniserklärung der Mutter, die mit ihrer Unterschrift bestätigte, dass sie mit einer Röntgenaufnahme des Schädels und der Entnahme von Nervenflüssigkeit (Liquor) bei ihrem Sohn einverstanden ist.

Ob und wie sie unter Druck gesetzt worden ist, ob man ihr eine Behandlung ihres kranken Kindes mit einer möglichen Aussicht auf Besserung oder gar Heilung vorgegauckelt hat, kann nicht mehr festgestellt werden. Alles schien ja seine "Ordnung" zu haben, es gab das Gutachten zur Unterbringung in eine Anstalt und auch die polizeiliche Zustimmung zur Unterbringung.

In einem von Dr. Maria Goetz erstellten, in der Akte befindlichen "Gutachten zwecks Aufnahme in eine west- fälische Provinzialheilanstalt wegen Geisteskrankheit-Schwachsinn-Epilepsie" datiert "Gelsenkirchen, den 4. Juni 1943" ist festgehalten: jetzige Krankheit "Hochgradiger Schwachsinn", vermutliche Ursache: "Geburtstrauma". Die Frage "Ist der Untersuchte wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche (unterstrichen) oder Epilepsie anstaltsbedürftig? wird mit "Ja" beantwortet - gleichsam das Todesurteil für den kleinen Jürgen. Es fällt auf, dass sich in diesem "Gutachten" keinen Hinweis auf eine ausstellende Behörde oder einen Arzt enthält, von der Unterschrift der beim Gelsenkirchener Gesundheitsamt beschäftigten städtischen Medizinalrätin Dr. Maria Goetz auf der letzten Seite einmal abgesehen.

Letzte Seite des Gutachtens

Auf dieser letzten Seite des Gutachtens ist in der Vergrößerung deutlich zu erkennen, dass auf dem Dokument im Bereich der Unterschrift manipuliert wurde. Der Zeitpunkt bleibt im Dunklen, doch Dr. Goetz ist zu lesen Zum Vergrößern anklicken

Berichte und Besuche

Abb.: Das Schriftbild hebt sich vom ersten Eintrag ab, es ent- steht der Eindruck, als seien die weiteren Eintragungen in einem Zuge geschrieben worden. Zum Vergrößern anklicken

Am 2. August besucht die Mutter das Kind, da- nach verschlechtert sich sein Gesundheitszustand laut Akte rapide. Das Blatt "Verordnungen" enthält nur einen Hinweis auf verabreichte Medikamente in den letzten Tagen vor seinem Tod, unter dem 8. August 1943 ist eingetragen: "2x1 ccm Sympatol". Die tatsächliche Todesursache ist bis heute nicht eindeutig geklärt.

Aktennotiz

Abb.: Aktennotiz, Zusatz: "Die Leiche wurde abgheholt, Beerdi- gungskosten sind nicht entstanden" Zum Vergrößern anklicken

Am 9. August 1943 ist das Kind tot, gestorben um 1 Uhr angeblich an "Kreislaufschwäche", so steht es auf dem Totenschein. Die Eltern in Gelsenkirchen wurden vom "Tod" ihres Kindes informiert, der Vater machte sich daraufhin mit einem Pferdefuhrwerk auf den Weg nach Dortmund-Aplerbeck und holte den Leichnahm ab. Jürgen Sommerfeld wurde in Gelsenkirchen-Schalke auf dem evangelischen Friedhof "Am Rosenhügel" beigesetzt.

Dokumente: LWL Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Bestand 653/1, Nr. 213 Patientenakte Sommerfeld, Jürgen. Der Bruder von Jürgen Sommerfeld hat einer Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt.

"Kinderfachabteilung" Dortmund-Aplerbeck: Überweisung in den Tod

"Kindereuthanasie" ist eine verharmlosende Bezeichnung für die im Nationalsozialismus systematisch organisierte Tötung von "therapieresistenten" geistig bzw. körperlich behinderten Säuglingen, Kindern und Jugendlichen bis zu 16 Jahren sowie solchen mit auffälligem Verhalten durch gezielt und bewusst herbeigeführtes Verhungern durch Nahrungsentzug und überdosierte Medikamentengabe.

Mahnmal gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten 1933-1945

Abb.: Mahnmal gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten 1933-1945 von Antje Kietzmann auf dem Gelände der heutigen LWL-Klinik Dortmund-Aplerbeck

Diese Kinder galten im so genannten "Dritten Reich" als "lebensunwert", wurden in der NS-Sprache als "Minusvarianten", "leere Menschen- hülsen" oder "Ballastexistenzen" bezeichnet. Ab August 1939 waren Ärzte und Hebammen dazu verpflichtet, neugeborene behinderte Kinder dem Gesundheitsamt zu melden.

Der Amtsarzt hatte die Meldungen an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin weiterzuleiten. Tatsächlich existierte der „Reichsausschuss“ nur auf dem Papier. In Wirk- lichkeit gelangten die Meldungen an die „Kanzlei des Führers“, wo ausgewählte Mitarbeiter die soge- nannten "Kindereuthanasie" organisierten und steuerten. Zur Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher richtete die Berliner Mordorganisation an verschiedenen Orten im Deutschen Reich so genannten „Kinderfachabteilungen“ ein. Die Berliner Organisatoren erwarteten von den Gesundheitsämtern, dass deren Mitarbeiter die Eltern der behinderten Kinder dazu überredeten oder drängten, ihre Kinder in die „Kinderfachabteilungen“ aufnehmen zu lassen. Dazu sollten neuartige Behandlungsmöglichkeiten und besondere Heilungschancen in Aussicht gestellt werden. Zwangseinweisungen waren formal nicht vorgesehen. Allerdings sollte den Eltern bei Verweigerung der Anstaltsunterbringung angedroht werden, dass sie für spätere Behandlungskosten selbst aufkommen müssten und dass ihnen möglicherweise das Sorgerecht entzogen werden könne.

Der "Kindereuthanasie" fielen reichsweit in über 30 sogenannten "Kinderfachabteilungen" mindestens 5.000 wehrlose kleine Menschen zum Opfer, Schätzungen gehen von bis zu 10.000 ohne jede Skrupel ermordete Kinder mit Behinderungen aus. Eine dieser „Kinderfachabteilungen“ befand sich zunächst im sauerländischen Niedermarsberg und später in Dortmund-Aplerbeck. Hier wurden behinderte Säuglinge und Kinder regional erfasst und ermordet.

Ganz geheim blieben die Kindestötungen trotz aller Anstrengungen des NS-Regimes wegen der steigenden Todeszahlen damals allerdings nicht. Der in Niedermarsberg (St. Johannesstift) zuständige Facharzt Dr. Werner Sengenhoff wurde in der Bevölkerung wegen seiner mörderischen Tätigkeit schon bald "Dr. Sensenhoff" genannt. Die öffentliche Unruhe in Marsberg wurde schließlich so stark, dass man sich 1941 zur Schließung der dortigen „Kinderfachabteilung“ entschloss. Kurzerhand wurde die Abteilung nach Aplerbeck verlegt. Am 1. November 1941 begann die "Kinderfachabteilung", eingegliedert in die „Kinderstation für die spezialisierte Behandlung geistig erkrankter Kinder bis zum Alter von 14 Jahren“ in Aplerbeck ihre "Arbeit", fast übergangslos ging das Morden dort weiter.

Paul Pohlmann, der damaliger Direktor der Aplerbecker Psychiatrie, ließ sich in den Ruhestand versetzen. Zugleich bot er weitere Mitarbeit an. Pohlmann amtierte fortan als Stellvertretender Direktor bei gleichen Dienstbezügen. Nach dem Krieg leugnete er den Dortmunder Kindermord und deckte so seine Kollegen: "Mir ist nicht bekannt geworden, dass in der Kinderfachabteilung in Aplerbeck irgendwelche Euthanasiemaßnahmen zur Anwendung gelangt sind."

Pohlmanns Posten übernahm am 1. August 1941 Dr. Fritz Wernicke, u.a. seit 1933 NSDAP- und SA-Mitglied und ab April 1940 Leiter der Gauheilanstalt Gostynin im besetzten Polen, wo er bereits an Tötungen psychisch Kranker aktiv teilgenommen hatte. Unter seiner Leitung wurden die Transporte der 661 Aplerbeck-Patienten in Tötungsanstalten wie Hadamar organisiert und durchgeführt; 401 von ihnen wurden Opfer der "T 4"- bzw. "Euthanasie"-Aktion. Der neue Anstaltsdirektor Dr. Fritz Wernicke war meist nicht anwesend, er selektiert für die Vernichtung im Osten. Sein Stellvertreter Dr. Theodor Niebel, bekannt als Alkoholiker, leitete die "Kinderfachabteilung" und das staatlich legitimierte Morden.

"Der Historiker Karl Teppe fand heraus, dass die Existenz dieser neuen „Kinderfachabteilung“ in Dortmund-Aplerbeck seinerzeit nahezu perfekt und erfolgreich getarnt wurde, dass das, was in dieser Abteilung wirklich geschah, nicht einmal in das Blickfeld staatsanwaltlicher Ermittlungen nach 1945 geriet, auch dank der systematischen Säuberung und Vernichtung von Akten in einigen Landeskrankenhäusern.

Die so genannte Kinderfachabteilung Aplerbeck

Abb.: Die so genannte "Kinderfachabteilung" Aplerbeck

Von den 451 Kindern und Jugendlichen bis 15 Jahren, die Dr. Fritz Wernicke mit seinem Oberarzt Dr. Theodor Niebel, Leiter der „Kinderfachabteilung“ von 1941 bis 1945, aufnahm, überlebten 226 Kinder nicht. Dr. Niebel und Dr. Wernicke, die in Dortmund-Aplerbeck für die Kindermorde verantwortlich waren, praktizieren nach 1945 unbehelligt weiter. Dr. Wernicke wurde zwar am 18. August 1945 als Anstaltsleiter entlassen, praktizierte jedoch bis zu seinem Tode 1961 als niedergelassener Arzt in Dortmund weiter. Dr. Niebel, als einfacher Parteigenosse nach Kriegsende nicht entnazifiziert, blieb nach 1945 übergangslos einer der verantwortlichen Ärzte in der Anstalt Dortmund-Aplerbeck und wurde 1957 noch zum Landesobermedizinalrat ernannt. 1968 wurde Niebel pensioniert, 1974 starb er, ohne je für seine Taten von der Strafverfolgungsbehörde behelligt worden zu sein. Auch die in der Dortmunder Kindermordstätte tätigen "Pflegerinnen" Helene Bock und Anna-Maria Bielefeld wurden nicht belangt.

Wie viele Kinder in der Anstalt Aplerbeck letztendlich von Wernicke, Niebel, Bock und Bielefeld zu Tode "behandelt" worden sind, lässt sich bis heute nicht genau feststellen, denn die Grenzen zwischen aktiver Tötung, Sterbeförderung und Sterbenlassen waren mitunter fließend. Dieses unmenschliche Kapitel deutscher Geschichte darf niemals vergessen werden.

Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Dezember 2021

Stolperstein für Jürgen Sommerfeld, verlegt am 11. Juni 2022

Jetzt erinnert in Gelsenkirchen ein Stolperstein an Jürgen Sommerfeld. Gemeinsam mit Bildhauer Demnig, Angehörigen und Vertreter*innen des Sozialwerks St. Georg verlegten wir am Samstag (11.6.) in einer kleinen Zeremonie an der Emscherstr. 41 (Emscherwerkstatt) den Stolperstein, Christa Sommerfeld enthüllte am Verlegeort daran anschließend sichtlich berührt die vom Sozialwerk St. Georg gestiftete Gedenkstele.

Gelsenkirchen: Stolperstein und Stele erinnern an Jürgen Sommerfeld

Sozialwerk St. Georg: Gebäude in Gelsenkirchen nach Jürgen Sommerfeld benannt

Das Namensschild am ‚Neubau‘ wurde am Mittwoch feierlich enthüllt. Adrian van Eyk (Geschäftsführung Sozialwerk St. Georg) und Familie Sommerfeld.

Abb.: Das Namensschild am ‚Neubau‘ wurde am Mittwoch feierlich enthüllt. Von li.: Adrian van Eyk (Geschäftsführung Sozialwerk St. Georg) und Familie Sommerfeld.

Das Sozialwerk St. Georg an der Gelsenkirchener Emscherstraße hatte zur offiziellen, feierlichen Namensgebung eingeladen. Der bisher namenlose Werkstatt-Neubau trägt jetzt einen Namen: Manufaktur Jürgen Sommerfeld. Im Rahmen einer offiziellen Feier wurde am Mittwoch (29.6.) die Namenstafel am Werkstattgebäude enthüllt.

Schon seit 2016 plante das Sozialwerk St. Georg, den Werkstattneubau, in dem Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung arbeiten, stellvertretend nach einem Menschen zu benennen, der während des Nationalsozialismus der so genannten ‚Euthanasie‘ zum Opfer gefallen ist. So konnten wir im Frühjahr diesen Jahres dem Sozialwerk Jürgen Sommerfeld als Namensgeber vorschlagen und den Kontakt zu Angehörigen herstellen. Familie Sommerfeld war einverstanden, so stand der Namensgebung nichts im Weg. Der Gebäudename ‚Manufaktur Jürgen Sommerfeld‘ in Gelsenkirchen erinnert stellvertretend an alle Menschen mit Behinderungen, die während des Nationalsozialismus den staatlich angeordneten Patientenmorden („Euthanasie“) zum Opfer gefallen sind.


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Juli 2022

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