Arthur Dessauer
Arthur wurde am 21. März 1916 als zweites Kind der Eheleute Gustav und Regina Selma Dessauer geboren. Seine Schwester Irma war zu diesem Zeitpunkt bereits 6 Jahre alt. Die Familie wohnte in der Königstraße 30 in Gelsenkirchen. Aus den 1920er Jahren ist ein Foto der Familie erhalten. Es zeigt Arthur im Alter von ungefähr 10 Jahren zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern.
Abb.1: Arthur, Regina Selma, Irma & Gustav Dessauer Mitte der 1920er Jahre. (Digital Archives von Yad Vashem)
Als auch in Gelsenkirchen die gesetzlichen Regelungen für jüdische Mitglieder der Gesellschaft weiter verschärft wurden, war Arthur gezwungen in das Ghettohaus auf der Bahnhofstraße 39a zu ziehen. Ghettohäuser dienten in Gelsenkirchen, wie im gesamten Deutschen Reich, ab Herbst 1939 zur Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung. Eine folgende Deportation sollte so vereinfacht werden.
Der Wohnort von Arthurs Vater August ist im Stammbaum des Aufgebotes vom Dezember 1940 bereits in Frankfurt angegeben, anderen Quellen zu Folge wurde er erst 1941 nach Frankfurt am Main deportiert, von dort aus weiter in ein nicht näher benanntes Vernichtungslager. Laut seiner Todesurkunde verstarb er am 18. März 1943 im Krankenhaus der israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main an den Folgen der Deportation und Ausbeutung. Regina Selma, Arthurs Mutter, verstarb verschiedenen Quellen zu Folge zwischen 1939 und 1943 unter ungeklärten Umständen in Gelsenkirchen. Im Stammbaum des Aufgebotes ist bei ihr Gelsenkirchen als letzter Wohnort angeben. Es ist daher davon auszugehen, dass sie im Dezember 1940 bereits verstorben war. Schwester Irma, Ehemann Max (später Moshe), sowie ihr Sohn Kurt (später Abraham Nave) gelang als einzigen Familienmitgliedern die Flucht. Sie erreichten am 1. August 1939 Haifa in Palästina (heute Israel).
Für Arthurs Onkel Alfred Heymann, Alfreds Ehefrau Grete und Tochter Hannelore werden im Mai 2024 Stolpersteine in der Liboriusstraße 100 in Gelsenkirchen verlegt.
Johanna Passmann
Johanna „Hanni“ wurde am 9. Dezember 1921 in Werne (heute Bochum) als viertes Kind der Eheleute Levy und Thinchen Passmann geboren. Ihre Schwestern, die Zwillinge Elli und Dorothea, waren zu diesem Zeitpunkt 5 Jahre und Rosa 3 Jahre alt. Johanna wuchs in Werne auf und wurde Hausgehilfin. Ihr letzter Wohnsitz vor der Heirat war ab dem 28. November 1939 das Ghettohaus in der Karl-Mayer-Straße 2 in Gelsenkirchen.
Abb.2: Vater Passmann erklärt sein Einverständnis mit der Hochzeit seiner Tochter Johanna
Ihr Vater Levy floh zusammen mit weiteren Familienmitgliedern in die Niederlande, von wo aus er am 26. November 1940 polizeilich beglaubigt sein Einverständnis in die Heirat seiner minderjährigen Tochter gab. Warum Johanna und ihre Mutter nicht ebenfalls flohen ist nicht überliefert. Wir wissen heute nur, dass Johannas Mutter Thinchen ebenfalls in die Karl-Mayer-Straße 2 einzog, vermutlich für die Vorbereitung der Heirat.
Aus Johannas direktem familiären Umfeld überlebte nach jetzigem Kenntnisstand nur ein gewisser Carl Passmann, er stellte 1948 aus den USA eine Suchanfrage und nennt Johanna dort „Hanni“. An Johannas Vater Levy und sechs weitere Angehörige der Familie Passmann erinnern heute Stolpersteine in der Scharnstraße 14 in Xanten. In Ahlen erinnert ein Stolperstein an ihre Schwester Rosa in der Südstraße 14.
Die Heirat von Arthur und Johanna
Abb.3: Das Aufgebot wurde im Hans-Sachs-Haus (Im NS Sitz der Stadtverwaltung) öffentlich ausgehängt.
Wir wissen nicht viel über das Leben von Johanna und Arthur, es ist nicht bekannt wann und wie sich ihre Wege kreuzten, gesichert ist nur die Tatsache, dass am Montag, dem 2. Dezember 1940 das Aufgebot für die Hochzeit beim Standesamt Gelsenkirchen bestellt und im Hans-Sachs-Haus bekannt gemacht wurde.
Neben den Verlobten unterschrieb das Aufgebot auch Johannas Mutter als Erziehungsberechtigte für die mit 19 Jahren noch minderjährige Johanna. Im Dritten Reich war die Volljährigkeit erst der Vollendung das 21. Lebensjahres erreicht.
Am Freitag, dem 20. Dezember 1940, um 10:40 Uhr wurde die Ehe der beiden geschlossen. Arthur und Johanna lebten danach gemeinsam im Ghettohaus in der Bahnhofstraße 39a. Trotz aller äußeren Umstände entstand hier der neue gemeinsame Lebensmittelpunkt. Im Frühjahr 1941 wurde Johanna schwanger.
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Mathel
Am Dienstag, dem 27. Januar 1942, wurde dann Johannas Mutter Thinchen Passmann nach Riga verschleppt. Sie kehrte nicht zurück. Ebenfalls in dieser Deportation waren Arthurs Onkel Alfred Heymann mit Frau Grete und Tochter Hannelore - auch sie wurden ermordet.
Nur wenige Tage später, am 4. Februar 1942, einem Mittwoch, wurde Mathel Dessauer geboren. Ihr Name ausgewählt aus einer Liste von Namen, die durch die Nationalsozialisten für Menschen jüdischen Glaubens genehmigt wurden. Denn nicht nur der Zweitname „Sara“ war von den Nationalsozialisten vorgegeben, es gab auch sehr eng gefasste Listen mit zulässigen Erstnamen für Neugeborene in jüdischen Familien.
Deportation
Bielefeld
Rund fünf Monate später begann am Montag, dem 7. September 1942 für die junge Familie das nun Unausweichliche: Zunächst „zog“ die Familie in den Schloßhof nach Bielefeld (Schloßhofstraße 73a), wenige Gehminuten außerhalb der Bielefelder Innenstadt. Defacto handelte es sich bei diesem "Umzug" bereits um eine Vorstufe zur Deportation, es wurde nur im Nazijargon entsprechend verharmlost.
Dort war die Familie ein halbes Jahr interniert. Der Schloßhof war ein sogenanntes „Jüdisches Umschulungslager“. Entstanden aus einem Gasthof, war die Örtlichkeit ursprünglich für 80 Inhaftierte ausgelegt, jedoch mit bis zu 250 belegt, die wenigsten aus Bielefeld selbst. Weniger als 50 überlebten die anschließenden Deportationen.
Auschwitz
In den Nachmittag- und Abendstunden des 1. März 1943, einem Montag, wurden die für die Deportation nach Auschwitz bestimmten Insassen des Schloßhofes mit Bussen zur Sammelstelle in die Vereinshalle „Eintracht“ am Klosterplatz, nahe des Bielefelder Güterbahnhofes, gebracht. Darunter auch Arthur, Johanna & Mathel. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Vorbereitung zur Deportation unbenmerkt, oder gar heimlich von statten ging: Die Vereinshalle „Eintracht“ lag mitten in der Bielefelder Innenstadt und direkt gegenüber eines Komplexes der katholischen Kirche.
Am frühen Morgen des 2. März 1943 setzte sich in Dortmund der Deportationszug nach Auschwitz in Bewegung. Heute wissen wir, dass Johannas Schwester Dorothea und ihr Ehemann Bruno Achtermann aus Dortmund ebenfalls mit diesem Zug deportiert wurden. Der nächste Zwischenhalt war Bielefeld.
Zusammen mit etwa 250 weiteren Personen bestieg die Familie Dessauer in Bielefeld etwa zur selben Zeit den Deportationszug. Dank eines Briefes von Lotte Windmüller, welche ebenfalls zu den Deportierten gehörte, wissen wir, dass die Beladung der Waggons zwischen 6 und 7 Uhr am Morgen begann und die Abfahrt für halb 10 geplant war. Das Gepäck brauchten die Deportierten nicht zu tragen. Zusammen mit den Waggons aus Dortmund setzte sich der Zug vermutlich zunächst in Richtung Berlin in Bewegung. Durch die Aussagen verschiedener Zeitzeugen gehen wir davon aus, dass alle Deportierten in diesem Zug zumindest eine Ahnung von dem hatten, was sie erwartete. So bereichtet Hans Frankenthal von dem Gespräch mit seinem Vater während des Haltes in Bielefeld:
„Als die Türen geöffnet wurden, flüsterte ich meinem Vater zu, dass die letzten beiden Waggons mit unserem Gepäck nicht mehr am Zug waren und er antwortete [...]: ‚Wohin wir gehen, werden wir kein Gepäck brauchen.‘“
Als der Zug am 3. März 1943, auf ungefähr 1.500 Deportierte angewachsen, nach rund 40 Stunden, spät in der Nacht Auschwitz erreichte, verliert sich die Spur von Arthur, Johanna und Mathel. Unter Schreien und Prügeln der SS-Wachen wurden die Menschen aus den Waggons getrieben, zurück blieben nur die während der Deportation Verstorbenen und jene zu entkräftet um sich noch aus eigener Kraft zu bewegen. Männer nach rechts, Frauen und Kinder nach links - keine Zeit für einen echten Abschied. Je nach Quelle wurde Arthur sofort auf einem LKW in Richtung Buna (Monowitz/Auschwitz III) abtransportiert. Während Johanna und Mathel auf der anderen Seite auf ihr Schicksal warteten. Wir gehen davon aus, dass Johanna und Mathel den ersten Tag in Auschwitz nicht überlebten. Sie wurden höchstwahrscheinlich schon wenige Augenblicke nach der Ankunft vergast und anschließend verbrannt. Vermutlich teilte Arthur jedoch dieses Schicksal, da für alle drei keine Häftlingsnummern bekannt sind.
Das Amtsgericht Bielefeld erklärte Johanna und Arthur am 9. September 1953 rückwirkend zum 31. Dezember 1945 für tot und ließ mit dieser Erklärung die von den Nationalsozialisten aufgezwungenen Zweitnamen „Sara“ und „Israel“ streichen.
Jeder Name zählt - #EveryNameCounts
Zu Mathel gibt es scheinbar keine behördlichen Dokumente, lediglich ihr Name taucht in verschiedenen Deportationslisten auf. In den offiziellen Gedenkbüchern war sie bisher falsch als „Martel“ erfasst. Während der Recherchen wurde ihren Einträgen die richtige Schreibweise Mathel hinzugefügt. Ebenso wurden bei Arthur Dessauer, Thinchen Heymann und Regina Selma Dessauer zusätzliche Namensteile bzw. Schreibweisen den Gedenkbüchern hinzugefügt.
Wir erinnern an:
Arthur Dessauer, 26 Jahre alt,
Johanna „Hanni“ Dessauer, geb. Passmann, 22 Jahre alt,
Mathel Dessauer, 1 Jahr alt.
Mit der Verlegung der Stolpersteine kehren ihre Namen zurück ins Stadtbild, dort wo Arthur seinen letzten frei gewählten Wohnsitz hatte, erinnern wir ebenfalls an seine Ehefrau Johanna und die gemeinsame Tochter Mathel. Die Stolperstein-Patenschaften und damit die Finanzierung der kleinen Denkmale haben Melanie und Philipp Siebert (Digitales Museum Liberating-Gelsenkirchen.de) übernommen.
Die gesamte Sammelakte zum Familienbuch Nr. 1635 Jahrgang 1940 kann digital eingesehen werden, ebenso wie die von Melanie und Philipp Siebert erstellte biografischen Zusammenstellung in ungekürzter Orginalfassung (Digitales Museum Liberating-Gelsenkirchen.de)
Quellen:
Standesamt Gelsenkirchen, Sammelakte zum Familienbuch Nr. 1635 Jahrgang 1940 (Liberating-Gelsenkirchen.de)
Gelsenzentrum.de
Stolpersteine-Gelsenkirchen.de
Gedenkbuch Stadt Bielefeld
Spurensuche-Bielefeld.de
Spuren-im-Vest.de
Digital Archive Yad Vashem
Statistik-des-Holocaust.de
Arolsen-Archives.org
Hoffmann, Daniel, Lebensspuren meines Vaters. Eine Rekonstruktion aus dem Holocaust, Göttingen 2007
Liste vorgeschriebener jüdischer Vornamen von 1938 (Beliebte-Vornamen.de)
United States Holocaust Memorial Museum
Abbildungen: Soweit nicht anders angegeben Liberating-Gelsenkirchen.de
1: Digital Archives von Yad Vashem
2: Einwilligung in die Eheschließung durch Levy Passmann
3: Aufgebot von Johanna Passmann und Arthur Dessauer
4: Todeserklärung Arthur Dessauer
5: Todeserklärung Johanna Dessauer
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