Chava Moskowitz' Ansprache anlässlich der Stolperstein-Verlegung:
"Ich, Chava Moskowitz, stehe hier am heutigen Tage, dem 12. Dezember 2014, mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits sind wir (das sind, neben mir, meine Schwester Zeldie Yurman aus Jerusalem, Tziril Weinberger aus New York, meine Nichte Leah Gertzulin aus Mexico und meine Cousine Susan Sanders aus New York) hierhergekommen, um die anderen Mitglieder unserer Familie zu repräsentieren, indem wir an die Leben meiner Mutter Chana Gertzulin, geb. Ramer, und ihrer Eltern Yaakov Ber und Leiba Ramer erinnern. Andererseits ist es schwer für uns, hier auf eben diesem Boden zu stehen, auf dem viele unserer geliebten Verwandten von den Nazis ermordet wurden.
Von den Stolpersteinen hörte ich zum ersten Mal, als Andreas Jordan mich im November 2012 über ancestry.com konktaktierte, und zwar bezüglich des Cousins ersten Grades meiner Mutter, Max Tepper, und seiner Familie. Vor dem zweiten Weltkrieg hatten sie in Gelsenkirchen gelebt, gegenüber der Familie meiner Mutter auf der anderen Straßenseite, und nach dem Krieg, als die Cousins sich wiedertrafen, verband sie weiterhin eine enge Beziehung. Leider konnten wir nicht an der Verlegung der Stolpersteine für Max Teppers Familie am 29. April 2013 teilnehmen, fühlen uns aber glücklich, heute hier zu sein. Unsere Großeltern, die im Holocaust umkamen, haben keine Grabstelle, daher ergriffen wir die Gelegenheit, diese Steine als Erinnerung an sie in ihrer Heimatstadt zu verlegen. Diese Steine werden Anwohner wie auch Auswärtige wissen lassen, dass die Familie Ramer-Fahn-Steuer existierte und niemals vergessen sein wird.
Diese Zeremonie soll so aussagekräftig wie möglich sein und ein wahrhaftes Erinnern an meine Mutter, die den Krieg überlebte und an meine Großeltern, die umkamen, daher möchte ich Ihnen in einigen Worten die Geschichte ihrer kurzen Leben erzählen. Meine Mutter war das einzige Kind ihrer Eltern, Yaakov Ber Ramer, geb. am 9. Februar 1903, und Leiba Ramer, geb. Fahn, am 22. Januar 1903. Sie verbrachte ihre ersten sechs Lebensjahre in Gelsenkirchen.
Anfang 1938, als die Zeiten unruhig zu werden begannen, wurde meine Mutter von ihren Eltern mit einem Kinder-Transport nach Holland geschickt. Da sie großes Heimweh hatte, blieb sie dort aber nur für kurze Zeit und wurde dann zurück zu ihren Eltern nach Gelsenkirchen geschickt. Im November 1938, verbrachte meine Mutter, Chana, die sogenannte "Kristallnacht" unter einem Bett und wurde Zeugin, wie ihr eigener Vater, Yaakov Ber, in ihrem Heim an der Schalker Straße von den Nazis zusammengeschlagen wurde. Die Nazis ließen nur von ihm ab, weil sie dachten, er sei unter ihren Schlägen gestorben. Meine Großmutter, Leiba, sprang aus dem Fenster und lief über die Straße, um ihre Schwester Sara Tepper zu informieren. Nachdem die Nazis gegangen waren, kehrte sie mit den Teppers nach Hause zurück, und versuchte medizinische Hilfe für ihren Mann zu bekommen. Das war der Moment, in dem meine Großeltern entschieden, dass es hier für ihre Tochter Chana nicht mehr sicher sei und dass sie mit einem Kinder-Transport nach England geschickt werden sollte.
In der Zwischenzeit, am 20. März 1940, wurde ihr Vater, Yaakov Ber, ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Bei unserer Reise nach Sachsenhausen im April 2013, konnten wir einige Aufzeichnungen über unseren Großvater, den “Häftling Nummer 17502”, ans Licht bringen. Nach dem morgendlichen Zählappell hatte er die Aufgabe, in bitterer Kälte und mit Werkzeug auf dem Rücken mehrere Meilen weit zu einer Ziegelfabrik zu laufen – pure Sklaven-Arbeit! Er starb im März 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen unter ungeklärten Umständen.
Über meine Großmutter, Leiba, gibt es nur wenige Informationen. Sie sollte am 27. Januar 1942 von Gelsenkirchen nach Riga deportiert werden. Allerdings floh sie bereits im Dezember 1941, bevor die Nazis sie deportieren konnten. Das ist das letzte, was wir über ihren Verbleib wissen. Wir hoffen noch immer, das weitere Archive geöffnet werden, so dass wir mehr herausfinden können.
Glücklicherweise musste meine Mutter nicht das gleiche Schicksal erleiden, wie ihre Eltern. Nachdem sie mit dem Kinder-Transport in England angekommen war, wurde sie von der nicht-jüdischen Familie Finches aufgenommen. Anfangs standen meine Großeltern in Briefkontakt mit der Familie Finch, und betonten die Wichtigkeit, dass meine Mutter ihre jüdische Identität bewahren könne. Die Gastfamilie stimmte zu und versicherte ihren Eltern, dass alles getan werden würde, sie wieder in Kontakt mit Mitgliedern ihrer Familie zu bringen. In England wurde sie schließlich von ihrem Cousin ersten Grades Max Tepper gefunden.
1945, im Alter von 13 Jahren, verließ meine Mutter Chana England, um mit Verwandten in Kalifornien zu leben, wo sie sich gut in das Leben in den Vereinigten Staaten einpasste. Im Alter von 17 Jahren zog sie nach New York, wo sie viele nahe Verwandte wiedertraf: Max Tepper, Ann (Steuer) Labaton sowie die Familien Braunstein und Fahn, die alle sehr eng miteinander geblieben waren.
Chana wählte eine religiöse und orthodoxe Lebensweise. Im März 1952 heiratete sie einen prominenten rabbinischen Studenten, Rabbi Hershel Gertzulin. Zusammen zogen sie in Monsey, New York, ihre neun Kinder groß. Obwohl sie bereits im zarten Alter von sechs Jahren eine Waise gewesen war und viel Elend allein ertragen musste, war Chana eine fröhliche, warme und liebevolle Ehefrau, Mutter und Großmutter. Sie vermittelte uns die Wichtigkeit, stets die Verbindung zur Familie zu halten. Traurigerweise wurde Chana mitten in ihren besten Jahren, im Alter von 67, am 15. Mai 2000, durch einen verhängnisvollen Autounfall aus dem Leben genommen, gemeinsam mit ihrem ältesten, zu diesem Zeitpunkt 42-jährigen, Sohn Yaakov Ber, der nach ihrem Vater Yaakov Ber Ramer benannt war.
Ich muss G'tt dafür danken, dass er half, diese Reise möglich zu machen. Es ist schwer für mich, meine Gefühle darüber auszudrücken, dass ich heute hier in der Heimatstadt meiner Mutter und meiner Großeltern stehe. Ich habe meine Großeltern nie kennengelernt, und das war eine große Lücke in meinem Leben. Bereits als junges Mädchen, sehnte ich mich danach, den Verbleib meiner Großeltern und anderer Verwandter herauszufinden. Ich suchte in der Bibliothek nach Informationen; ich ging durch viele Holocaust-Museen überall auf der Welt in der Erwartung, ein Foto meiner Großeltern zu finden. Das Unbekannte war für mich so schwer zu fassen. Heute hier zu stehen, ist der Moment in meinem Leben, in dem ich meinen Großeltern am nächsten komme und die Verbindung zwischen uns spüre. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, meiner lieben Cousine Susan Sanders zu danken, die mit uns heute diese Zeremonie begeht. Meine Obsession, Familie zu suchen, endete niemals. Im August 2011 nahm ich über ancestry.com Kontakt zu vielen meiner Cousins auf, Susan war eine von ihnen. Wir trafen uns zum ersten Mal am 18. September 2011 bei mir zuhause zu einer Familien-Wiedervereinigung. Sie vertritt auch ihre Schwester Debbie, ihre Tante Betty (die eine Nichte meiner Großeltern und Cousine ersten Grades meiner Mutter war) genauso wie viele andere Cousins.
Ich möchte gern auch meinen Dank an jene Personen aussprechen, die das heutige Zusammentreffen hier mit ermöglicht haben. Andreas Jordan – dafür, dass er mich über ancestry.com gefunden hat und half, den heutigen Tag Realität werden zu lassen. Nach vielen E-Mails sind wir nun alle hier in Erinnerung an meine Mutter und an meine Großeltern vereint. Besonderen Dank auch dafür, dass diese Zeremonie auf Video aufgenommen wird, so dass die Familienmitglieder, denen es nicht möglich war selbst teilzunehmen, sie sehen können.
Gunter Demnig – für seine brilliante Idee der Stolpersteine und für sein Engagement für dieses Projekt vom Anfang bis zur Vollendung. Rabbi Chaim Kornblum, Judith Neuwald-Tasbach, Chaym Guski, und dem Kantor Yuri Zemski, dafür dass sichergestellt ist, dass heute ein Minjan hier versammelt ist, so dass wir der Zeremonie einen Abschluss geben und das Kaddish sprechen können, zum ersten Mal bei diesen Steinen, die an dieser Stelle als Ersatz für ihre unbekannten Gräber dienen werden".
Ich danke Ihnen!
|