Die Hochzeit von Kaufmann Moritz Voosen, geboren am 31. Mai 1877 und seiner Frau Rosalie, geborene Blumenfeld, geboren am 17. April 1874 in Salzkotten fand am 7. November 1900 statt. Die erste gemeinsame Wohnung des jungen Ehepaaares befand sich an der damaligen Rotthauserst. 48. Der Erstgeborene war Sohn Hermann, geboren am 27. Juni 1901, es folgte Schwester Erna am 19. Juli 1902 und am 29. Oktober 1904 das jüngste Kind des Ehepaares Voosen, der kleine Erich.
Hermann Voosen besuchte die Jüdische Volkschule an der Ringstraße 44, die 1907 vor dem Hintergrund des blühenden jüdischen Lebens in Gelsenkirchen dem weiteren Anwachsen der Gemeindein Gelsenkirchen noch erweitert werden musste. Seit dem 1. April 1908 war die jüdische Schule in eine städtische Schule geworden. "Aufgrund des Vertrages vom 6. März 1908 ist die israelitische Schulsozietät unter Zustimmung Königlicher Regierung, Abteilung für Kirchen und Schulwesen vom 25. September 1908 B III. 5506 aufgelöste und deren Schule in eine städtische Anstalt umgewandelt. Der israelitische Schulvorstand wie die Repräsentanten-Versammlung sind als Folge dieser vertraglichen Vereinbarung mit Wirkung vom 1. April 1908 außer Tätigkeit getreten."
1915 zog die junge Familie in das Haus Klosterstraße 13 in der Gelsenkirchener Altstadt. Als Sohn eines gutsituierten Kaufmanns der aufstrebenden Mittel- und Oberschicht Gelsenkirchens machte Hermann Voosen kurze Zeit in festem Glauben an eine Zukunft später sein Abitur. Für ein Jahr zog er dann in den ersten Weltkrieg. Nach seiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg arbeitete Hermann Voosen zwei Jahre in einer Handelsfirma, danach trat er in die Firma seines Vaters ein. Moritz Voosen starb am 25. Oktober 1932.
Abb.1: Arbeitszeugnis für Herrn Jakob Feilmann, ausgestellt 1932 von Firma Moritz Voosen, Gelsenkirchen
Nicht zuletzt die Kriegserfahrungen haben Hermann Voosen entscheidend geprägt, Zeit seines Lebens wird er sich immer wieder für Schwächere und Benachteiligte einsetzen. Nach eigenen Angaben war er Mitglied der Demokratischen Partei.
Im Jahre 1930 finden sich die Namen von Vater und Sohn Voosen in der Wahlliste vom 16. November zur Gründung der liberalen jüdischen Synagogengemeinde Gelsenkirchen. Ein deutlicher Hinweis darauf, das sich auch Hermann Voosen dem progressiven Judentum verbunden fühlte. Die Jahre bis zur "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 brachten auch in Gelsenkirchen einen sozialen Aufstieg des Judentums in der bürgerlichen Gesellschaft mit sich.
Dennoch geriet die Firma Moritz Voosen und Söhne, Import-Agentur für Metzgereibedarf, Fleisch, Innereien, Därme und Gewürze noch vor der Machtübergabe an die Nazis in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Am 12. April 1932 ging die Firma in Konkurs, am 21. November 1933 wurde die Firma aus dem Handelsregister gelöscht. Wenige Tage danach, am 11. Dezember 1933 flieht Hermann Voosens jüngerer Bruder Erich nach Plästina, Schwester Erna gelingt die Flucht nach Palästina im Jahr 1936.
 Abb.2: Flora Voosen nach ihrer Befreiung 1945
Hermann führte die Firma seines Vaters als Einzelunternehmer unter der bisherigen Anschrift Klosterstraße 13 weiter. Auch Familie Voosen war in der Folgezeit von den sich ständig verschärfenden Boykott-, Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Terrorstaates betroffen. 1937 heiratet Hermann Voosen die aus Bad Wildungen stammende, am am 27. Februar 1909 geborene Flora Katz.
Flora Katz wuchs nach eigenen Angaben im Elternhaus auf, hat eine Mädchenschule und ein Jahr Realschule mit entsprechendem Abschluss absolviert. An der Handelsschule in Kassel setzte sie ihre schulische Ausbildung fort und machte auch dort ihren Abschluss. Sie arbeitete dann in einem Büro und unterstütze ihren Vater, bevor sie 1937 ihr Elternhaus verließ, um in Gelsenkirchen Hermann Voosen zu heiraten. Die gemeinsame Tochter Mathel wurde am 14. Mai 1939 im Elisabeth-Krankenhaus in Gelsenkirchen-Erle geboren. Mit dem Stichtag der Volks-, Berufs- und Betriebszählung, dem 17. Mai 1939, ist die Familie gemeinsam mit Hermanns Mutter noch mit der Anschrift Klosterstraße 13 verzeichnet. Kurze Zeit später überschlugen sich die Ereignisse. Staatlich legitimiert enteignen die Nazis Witwe Rosalie Voosen, die Firma Voosen Metzgereibedarf wurde an einen strammen Nazi, einen so genannten "Arier" übereignet.
Die gesamte Familie Voosen wird aus ihre Wohnung vertrieben und in eines der so genannten Gelsenkirchener "Judenhäuser" an der Augustastraße 7 eingewiesen. Somit verloren Voosens auch einen Großteil ihrer Möbel, denn die Verhältnisse in den Zwangsunterkünften waren extrem beengt, nur das Nötigste konnten die Menschen mitnehmen. In diesen kleinräumigen Ghettos mussten die Menschen bis zur Deportation ausharren, ständig von der Gestapo schikaniert und gedemütigt.
Hermann Voosen musste in der Folgezeit Zwangsarbeit verrichten, nach seinen Angaben war er überwiegend im Straßenbau eingesetzt. Die letzten Monate vor der Deportation, die von den Nazis verschleiernd als "Evakuierung in den Osten" deklariert wurde, musste Hermann Voosen bei der "Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Büro Gelsenkirchen" Schreib- und Verwaltungsaufgaben erledigen. Die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" und die noch bestehenden jüdischen Gemeinden, die unter Kuratel der Gestapo standen, wurden gleichermaßen in den Verwaltungsvorgang des Abtransportes mit einbezogen. Sie hatten die Deportationslisten nach den Richtlinien der Gestapo zusammenzustellen, die dann von der Staatspolizei überarbeitet und genehmigt wurden. Sie betreuten die Menschen bis zum Abtransport.
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Ende 1941 machten erste Gerüchte in Gelsenkirchen die Runde, der Zielort Riga für die Evakuierung wurde genannt. Die Menschen wussten ja nicht, was sie am Bestimmungsort Riga erwartete. Einige Wochen vor der Deportation hatten die Betroffenen bereits Benachrichtigungen erhalten, darin wurde dem Empfänger mitgeteilt, dass er zur "Evakuierung in den Osten" eingeteilt sei und sich an einem bestimmten Tag für den Transport bereit zu halten habe.
Die zur Deportation bestimmten Personen glaubten zu diesem Zeitpunkt noch an den von den Verfolgungsbehördenvorgegaukelten Arbeitseinsatz im Osten, wurde doch in den Briefen detailliert aufgelistet, welche Ausrüstungsgegenstände mitzunehmen sind: Schlafanzug, Nachthemd, Socken, Pullover, Hosen, Hemden, Krawatten, warme Kleidung, Näh und Rasierzeug, Bettzeug, Medikamente und Verpflegung. Arbeit im Osten, daran glaubte man. Denn Arbeit bedeutet Brot, und Brot bedeutet Leben, bedeutet Überleben, so dachte man. Niemand konnte sich vorstellen, dass das alles nur Lug und Trug war, perfider Teil eines Mordplans, den die Nazis "Endlösung" nannten.
Um den 20. Januar 1942 wurde in der Ausstellungshalle am Gelsenkirchener Wildenruchplatz ein temporäres "Judensammellager" eingerichtet. Dort wurden rund 360 jüdische Frauen, Männer und Kinder jeden Alters aus Gelsenkirchen eingepfercht, etwa 150 weitere jüdische Menschen wurden aus umliegenden Städten nach Gelsenkirchen transportiert. Die Menschen wurden im Sammellager ihrer letzten Wertsachen beraubt, Frauen und Mädchen wurden gar gynäkologisch untersucht, um so jedes mögliche Versteck für Schmuck oder Geld aufzuspüren. Hermann Voosen wird als so genannter "Transportleiter" bestimmt. Am 27. Januar 1942 setzte sich der aus alten Personenwagen sowie zwei Güterwaggons für die persönliche Habe und Handwerkszeug bestehende Zug, um vier Uhr in der Frühe vom Güterbahnhof in Richtung Riga in Bewegung, unter den Betroffen befanden sich auch Hermann Voosen, seine Frau Flora und die kleine Tochter Mathel, von den Eltern liebevoll "Püppi" genannt.
Hermanns Mutter Rosalie blieb zunächst in Gelsenkirchen zurück, sie wurde einige Wochen später, am 31. März 1942 mit den zweiten Deportationstransport aus Gelsenkirchen in das Ghetto von Warschau verschleppt. Seither fehlt jedes Lebenszeichen von ihr. Hermann Voosens Tochter Mathel, mit ihren Eltern nach dem Ghetto Riga deportiert, wird nach der schrittweisen Ghettoauflösung, die am 2. November 1943 endete, zusammen mit rund 2300 anderen Häftlingen von Riga in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überstellt. 30 Frauen und 120 Männer wurden nach der Ankunft als Häftlinge übernommen, die anderen Menschen wurden ermordet.
November 1943: Von Riga nach Auschwitz
 Abb.3: Der Häftling Reinhold erlebte die Auflösung des Ghettos Riga im November 1943 und den daran anschließenden Transport nach Auschwitz mit.
Ein Häftling namens Albert Reinhold, der den Transport im November 1943 von Riga nach Auschwitz miterlebte, berichtete nach seiner Befreiung 1945:
"[...] Durch einen SS-Mann erfuhr ich, dass das Ghetto (Riga) in der nächsten Woche aufgelöst werden sollte. Ich versuchte bei allen Stellen durchzusetzen, dass mein Bruder und ich in ein anderes lager kamen. Den 2. November werde ich nie vergessen. Mein Bruder schrie mir zu: 'Albert, die SS ist schwer bewaffnet, mit Maschinengewehren und Pistolen im Ghetto'. Sofort wusste ich, jetzt ist es vorbei und aus dem Ghetto zu fliehen ist der sichere Tod.
Aus dem Krankenhaus wurden die Patienten in Lastwagen geladen und aus dem Ghetto herausgefahren. Alle Personen über 55 Jahren mussten antreten, auch alle Kinder mit Eltern. Viele Kinder waren allein zu Hause, da ihre Mütter oder Väter arbeiten gegangen waren. So ging es bis Mittag, plötzlich wurden Befehle gegeben, alle Personen, ob jung oder alt, müssen auf dem Appellplatz antreten. Die verfluchte SS kam auch schon mit ihren Hunden, bewaffnet bis an die Zähne und durchsuchten jedes Haus. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen, um dann vom Ghettokommandanten und einem Untersturmführer ausgesucht zu werden. Bei meinem Bruder zeigte er schon auf den Lastkraftwagen, denn Taubstumme konnten sie nicht gebrauchen. Ich sagte ihm, er ist mein Bruder und ein sehr guter Arbeiter, darauf fragt er mich, ob ich mit meinem Bruder mitgehen wolle oder hierbleiben. Ich ging freiwillig mit denn ich erinnerte mich an die letzten Worte meiner Mutter: "Pass auf Max auf".
Wir wurden auf Autos verladen und nach dem Bahnhof gebracht, es kamen 60 Personen in einen Güterwagen. Ein Drittel Brot Verpflegung gab es. Wir wurden wie eine Herde Vieh in die Waggons getrieben. Abends um 7 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Um Mitternacht bekamen wir die ersten Besuche der lettischen SS. Sie durchsuchten uns nach Schmuck und Wertgegenständen, wir wurden mit Gewehrkolben von einer Ecke in die andere getrieben, so ging es die ganze Nacht. Die Leute schrien, es half nichts. Endlich wurde es Tag, wir fuhren in Richtung Litauen.. Am Tag liess man uns in Ruhe. Die Nacht kam, wieder das selbe Schauspiel von Neuem. Mädchen wurden vergewaltigt vor den Augen ihrer Eltern und Kinder. Elternlose Kinder weinten Tag und nacht. In der nacht kamen wir auf einer Station an und blieben auch bis in der Früh stehen, wo wir uns befanden, wusste niemand, das einzige Lebenszeichen, was von draussen hereindrang, war das Auf- und Abgehen der Posten.
Endlich kam der Morgen, die Waggons wurden geöffnet. Man sah nur SS mit Maschinengewehren und Stöcken bewaffnet. Sämtliches Gepäck wurde uns abgenommen. Ein SS-Arzt kam und suchte junge arbeitsfähige Männer heraus. 119 Leute wurden ausgesucht, der Transport war 2200 Menschen stark. Wo wir uns befanden, wussten wir noch immer nicht. Die LKW's kamen und holten die anderen Menschen ab. Unter den Ausgesuchten waren mein Bruder und ich, das Aussuchen ging nur nachdem Aussehen der einzelnen Personen. Wir marschierten ins Lager 'Birkenau' ein. Sofort ging es um die bekannte Entlausung. Alles ausziehen, das waren die ersten worte, die man uns zurief. Dann wurden uns die laufenden Nummern in den Unterarm eintätowiert, nachdem wurden uns die Köpfe kahlgeschoren und wir wurden unter die kalte Brause gestellt, von dort nackend über den Hof springen, um die Kleider zu empfangen, die es aber erst spät Abends gab. Als Schlafgelegenheiten wurden uns kalte Pferdebaracken mit Kojen, vier Mann in einem solchen Käfig, 3 Stock hoch, ohne Strohsack und ohne Decken zugewiesen. Verpflegung: früh Kaffee, Mittags eine Wassersuppe, abends 200gr. Brot mit 20gr. Magarine, oder eine Scheibe Wurst. Früh hieß es antreten bis Mittag stehen, dann von Mittag bis Abend Kniebeuge. Der SS-Arzt untersuchte uns viermal. Die Angst, die ich um meinen Bruder ausgestanden habe, war furchtbar. Dank meiner Aufmerksamkeit, merkte der Arzt nicht, dass mein Bruder taubstumm war.
Es ging von Birkenau nach Auschwitz, von Auschwitz nach Monowitz (7 Kilometer von Auschwitz entfernt). Wir mussten da die Kleider noch nicht da waren nackend durch das ganze Lger (3 KM) laufen. Erst am anderen Morgen bekamen wir die nassen Kleider zurück und mussten sofort zur Arbeit ausrücken. Der Ausmarsch war für meinen Bruder besonders schwer, denn das Marschieren ging im Takt der Kapelle, die vor dem Tore stand. Er konnte nicht Schritt halten und bekam beim Ein- und Ausmarsch immer Schläge. Vier Wochen musssten wir im Steinbruch arbeiten. In den ersten schon gab es viele Kranke. Nach drei Wochen wurde ich mit 40 Fieber in den Krankenbau eingeliefert. Die Ärzte stellten Lungenentündung fest. Medikamente waren fast nicht vorhanden. Drei Wochen später wurde ich entlassen und bekam Fachkommando. In dem Lager befanden sich 10.000 Häftlinge, 95% Juden, fast alle Häftlinge arbeiteten im Werk in dem 'Buna' künstlicher Gummi und Methanol hergestellt wurde. Das Werk war eine Zweigstelle von Leuna. Unser Kommando arbeitete im Methanolbetrieb. Eine Leitung wurde undicht und ich hatte den Auftrag, den Schaden zu beheben. Das Methanol floss über meine Kleidung und da es Winter war, wollte ich meine Wäsche sofort wieder trocknen.. Als ich in die Nähe der Schweissflamme kam, fingen meine Kleider sofort Feuer und ich brannte lichterloh. Durch das entschlossene eingreifen einiger Kameraden und englischer Kriegsgefangener, die mich sofort zu Boden warfen, war das Feuer nach einigen sofort erstickt. Ich hatte Brandwunden an beiden Händen und musste sofort ins Lager gebracht werden.
Brandsalbe war fast nicht zu haben. Nach 14 qualvollen Tagen wurde ich als geheilt entlassen. So ging das Leben einige Monate, bis ich furchtbare Schmerzen bekam und Abends nicht fähig war, ins Lager einzumarschieren. Ich wurde von vier Kameraden ins Lager getragen. Nachdem ich mich von meiner Ohnmacht erholt hatte, wurde am nächsten Tage untersucht. Zuerst musste ich kalt und dann warm baden, trotzdem ich 39,5° Fieber hatte. Die ärztliche Diagnose lautete 'Gelenkrheuma'. Die Schmerzen machten mich fast wahnsinnig. Ich wurde nach 8 Tagen dem SS-Arzt vorgestellt. Der sollte entscheiden, ob es noch Zweck hätte, dass ich weiter in Behandlung bleiben sollte oder ob ich in das Krematorium in Birkenau geschickt werden solle. Da ich aber kräftig war und in einem Fachkommando arbeitete, nahm er davon Abstand. Als ich eines Abends ins Lager zurückkam, wurde mir von einigen Freunden erzählt, dass alle Taubstummen nach Birkenau gekommen sind. Der Schmerz war unbeschreiblich, den letzten Angehörigen, den ich im Lager hatte, zu verlieren.
Das Gelenkrheuma liess mich nicht mehr in Ruhe, ich wurde noch 5 mal in den Krankenbau eingeliefert. Meine Vorgestzen (Häftlinge) nahmen auf mich grosse Rücksicht, ich wurde als Schweisserlehrling beschäftigt. Verschieden Häftlinge, die keinen anderen Ausweg mehr wussten, versuchten zu flüchten, wurden aber wieder eingefangen. Wir mussten dann alle auf dem Appellplatz antreten und zusehen, wie die Armen zu einem Galgen geführt wurden. Dieses furchtbare Schauspiel dauerte einige Stunden. Das genügte aber der sadistischen SS noch nicht, es mussten sämtliche Häftlinge an den Galgen vorbeimarschieren, links und rechts SS mit Maschinengwehren. Ein 15-jähriger Junge wurde durch den Strang hingerichtet, weil er einen Kopf Kohl gestohlen hatte... Wer nicht mehr arbeiten konnte, wurde nach Birkenau zur Vergasung gebracht. Zu diesen vielen Sorgen kam noch eine neue: englisch-amerikanische und russische Flieger. Die Amerikaner kamen am Tage, die Russen in der Nacht. Am Tage konnten wir aus dem Werk nicht mehr heraus. Die Flugzeuge bombardierten das Werk. Bei einem angriff waren bei den Gefangenen 84 Todesopfer zu beklagen, einen Schutz für Gefangene gab es nicht. Nach einem Bombenangriff gab es weder Wasser, Licht noch Essen, nur Arbeit.
Es versuchten wieder einige aus dem Lager zu entkommen, wurden aber von politischen Häftlingen verraten. Es waren Gefangene, die schon seit 1938 von den Nazis in Lager gebracht wurden. Bevor die Armen durch den Strang hingerichtet wurden, riefen sie uns noch zu:" Kopf hoch, Kameraden, wir sind die letzten"... leider folgten noch einige, bis plötzlich der Befehl kam, das Lager muss geräumt werden. Am 18. Januar 1945 wurden wir alle und alle Lager im Bezirk Auschwitz (180.000 Menschen) in Marsch gesetzt. Es ging in Richtung Gleiwitz. [...]"
In dem am 30. Mai 1945 im schwedischen Flüchtlingsaufnahmelager Rosöga bei Strängnäs von Hermann Voosen verfassten Brief an den rechtzeitig aus Gelsenkirchen geflohenen Leo Gompertz in New York ist zu lesen:
"[...] Es machte das Gerücht die Runde, dass es zu dem Zweck tauglichen Juden erlaubt sein würde, sich dort niederzulassen. Also war mehr Gepäck notwendig, sowie Haushaltsutensilien und Werkzeug. Die Reichsbahn musste also noch zwei weitere Güterwaggons zur Verfügung stellen – auf Kosten von zwei Passagierwaggons. Die Gestapo half dabei und stimmte allem zu. In der Kongregation begann ein totaler Räumungsverkauf und Umzug von Möbeln. Ein spezieller Transportdienst wurde organisiert, um beim Packen und Verstauen zu helfen. Gepäck und Möbelstücke wurden in die Ausstellungshalle gebracht. Große Mengen an Lebensmitteln, Seife und andere streng rationierte Waren wurden mit Genehmigung der Gestapo aufgetrieben und zur Verfügung gestellt. Wir hatten alles. Wir erfuhren Wohlwollen und Mitgefühl von der Bevölkerung. In Abstimmung mit der Gestapo packten wir auch die Thorarollen und Devotionalien ein.
Am 22. Januar wurden dann die Betroffenen von zu Hause mit Bussen abgeholt und zur Ausstellungshalle gebracht. Die Juden aus Recklinghausen und Dorsten, angeführt von Dr. Stern, kamen auch dazu. Mir wurde die Verantwortung für den Transport übertragen. Dieser Job war nicht sehr angenehm. Wir verbrachten die Tage bis zum 27. Januar 1942 auf Stroh in den Ausstellungsgebäuden. Wir wurden von der Wohlfahrtseinrichtung der Nazis mit Essen versorgt. Zuerst ging also alles gut. Ein Vorkommnis muss jedoch erwähnt werden. Eine alte Frau, leicht verrückt, (ich habe den Namen vergessen, aber sie lebte bei den Schettmars am Moltkeplatz) schnitt sich ihre Pulsadern auf. Sie war unser erstes Todesopfer."
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Weiter schreibt Hermann Voosen in dem Brief:
Die alten alten Passagierwaggons, die für diesen Zweck von der Reichsbahn zur Verfügung gestellt worden waren, teilweise mit zerbrochenen Fenstern, waren keinesfalls dazu ausgerichtet, 500 Menschen unterzubringen, geschweige denn das Gepäck. Wir wurden einfach hineingestoßen. Die Menschen standen in den Gängen. Für die Dauer der gesamten Reise mußten die Leute noch eine Person auf den Schoß nehmen. In Dortmund wurde der zweite Teil des Zugs angehängt, mit noch mehr Juden aus Dortmund und Umland, aus Witten, Bochum. Herne und eine kleine Gruppe aus Münster. Nun waren 1.000 Juden im Zug. Die Dortmunder wurden von
Herrn Elsbach geführt.
Wir litten während der Fahrt unter der Kälte und dem Mangel an Trinkwasser; die Toiletten froren zu. Dies war jedoch nur der Anfang. In Lehrte wurde der Waggon mit unseren Lebensmitteln abgehängt, mit der Entschuldigung, dass eine Achse heißgelaufen war. Der unseren Transport begleitende Polizeibeamte erlaubte mir, einen Anruf nach Tilsit zu machen, um zu versuchen, dort Hilfe in unserer Notlage zu bekommen. Und tatsächlich, die lieben Juden aus Tilsit, angeführt von Herrn Altertum, brachten mit dem Schlitten heiße Getränke und Lebensmittel zum Rangierbahnhof, der Meilen von Tilsit entfernt war. Es wurde uns erlaubt, ihnen letzte Nachrichten für unsere Liebsten mitzugeben, die daheim geblieben waren, damit sie wenigstens wussten, wohin wir gefahren waren.
Unterwegs starb dann Frau Meier aus Witten am 28. Januar 1942; sie war bereits krank, als sie in den Zug geschoben wurde. Zwei Doktoren aus Dortmund waren bei uns im Zug: Dr. Cohn, der selbst Diabetiker war, und Dr. Grünewald, der sich als Doktor bis dahin darauf beschränkt hatte, über medizinische Themen zu schreiben.
Eine Krankenschwester aus Gelsenkirchen, deren Name mir leider entfallen ist, half allen großartig. Sie war eine approbierte Schwester und wohnte in der Schalker Straße. Dann musste ein Waggon geräumt werden, da er keine Fenster hatte. Das führte dazu, daß alle anderen Waggons noch voller wurden. Ein Fröhling aus Buer, der seinen Verstand verloren hatte, weigerte sich, den Waggon zu verlassen. Am nächsten Morgen entdeckten wir, daß er vom fahrenden Zug gesprungen war. Am 1. Februar 1942 erreichte der Zug den Skirotava Bahnhof in Riga. Die SS erwartete uns bereits. Ohne jeglichen Grund prasselten Schläge auf uns nieder, trotzdem waren wir froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. Außer einigen erfrorenen Zehen und Füßen hatten wir alles überstanden, im Gegensatz zu Transporten aus Berlin und Wien, die vor uns eingetroffen waren, und auf denen es viele Todesopfer zu beklagen gab. Unser Gepäck mussten wir auf einen Haufen werfen – wir haben es nie wiedergesehen, noch nicht einmal die Haushaltsgeräte, Werkzeug und devotionale Gegenstände, die wir mit uns trugen.
Herr Wolff aus Dortmund wurde von der SS herausgerufen. Vor unserer Abfahrt aus Dortmund hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Offizier der Gestapo. Er, Frl. Goldbaum aus Gelsenkirchen, die an einer Herzschwäche litt, Herr Goldschmidt aus Bochum, dessen Füße erfroren waren, und ein 12 Jahre alter Junge, Rosenberg aus Bochum, der auch an erfrorenen Füßen litt, wurden auf einem kleinen Schlitten davongebracht und wahrscheinlich erschossen.
Wir, die wir übrig geblieben waren, mußten zu Fuss die 10 km ins Ghetto nach Riga zurücklegen. Der Transport aus Gelsenkirchen/Dortmund war der letzte, der in Riga ankam, und mit ihm war das Ghetto praktisch voll. Es lebten dort 12.000 Menschen. Nun begann die Zeit der Sklavenarbeit, das Leid und der Schmerz. Appelle, Erschiessungen und das Hängen von Insassen waren an der Tagesordnung. Wir nahmen nur wenig Kenntnis. Der Tod war kein Unbekannter mehr, und wir fürchteten ihn auch nicht länger. Ich organisierte unsere Gruppe zusammen mit Dr. Stern.
Am 4. Mai wurde ich von Weib und Kind getrennt und in das Arbeits- oder eher Hunger- und Vernichtungslager Salaspils bei Riga geschickt. In Salaspils starben 897 von 2.000 Männern an Hunger, oder wurden entweder erschossen oder erhängt – und das innerhalb von 6 Monaten. Da eine immer größer werdende Anzahl von lettischen politischen Gefangenen untergebracht werden mussten, wurde das Lager geräumt.
Am 4. Juli 1942 hielt ich unerwarteterweise meine Frau und mein Kind wieder in meinen Armen. Ich ging dann jeden Tag, auch Sonntags, zur Arbeit. Inzwischen war es Mitte 1943. Die Frontlinie wurde durchbrochen, Gerüchte begannen zu zirkulieren, dass das Ghetto aufgelöst werden sollte; das neue Konzentrationslager Kaiserwald wurde errichtet. Es wurde gefüllt mit Leuten aus dem Ghetto. Kleinere Transporte gingen auch nach Estland. Am 2. November 1943 wurde das Ghetto endgültig geschlossen. Alle Patienten aus den Krankenhäusern, einige waren erst den Tag zuvor operiert worden, Menschen, die arbeitsuntauglich waren, Menschen, die nur eingeschränkt Tätigkeiten verrichten konnten, Kinder, Frauen, zusammen 2.286 Menschen ohne Decken oder Stroh wurden auf Viehwagen verladen und man sagte uns – und so wird es höchstwahrscheinlich auch gewesen sein – daß sie nach Auschwitz gebracht würden. Unter ihnen war mein Kind.
Die, die sich noch im Ghetto befanden, wurden durch militärische Einheiten in Baracken in Riga gebracht. Meine Frau und ich kamen auf das Arbeitsbekleidungs-amt 701. Dort wurden wir relativ gut behandelt. Zumindest waren wir zusammen. Die Front kam immer näher. Der A.B.A. 701 [Arbeitsbekleidungsamt 701] packte am 27. September [1944] zusammen und zog nach Libau. Bevor es soweit war, hatte es eine Anzahl von Säuberungsaktionen gegeben, besonders betroffen waren Alte und Kranke (solche mit Knochenbrüchen, Krampfadern, etc.), und es gab Transporte ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Ich rettete meine Frau vor diesem Schicksal, indem ich sie stundenlang auf einem Fensterbrett hinter dem Verdunklungsvorhang versteckte, bis der Transport abgegangen war. Ich weiss bis heute nicht, woher ich meine Energie nahm. Alles, was ich tat, war gefährlich. Alles ging jedoch gut, auch dank meiner Tüchtigkeit bei der Arbeit, die die Nazis wertschätzten.
Die „Sanga“, ein neues deutsches Frachtschiff, brachte uns nach einer sehr stürmischen Passage in Libau am 1. Oktober 1944 an Land. Während der gesamten Überfahrt mussten wir uns vorne an der Einstiegsluke aufhalten. Wir blieben in Libau bis zum 19. Februar 1945. Das waren schlimme Monate. Wir mussten Tag und Nacht arbeiten, ohne Schutz vor Bombenangriffen, nur unzureichend ernährt. Als wir Libau verließen, trauerten wir um 17 Kameraden, Männer und Frauen. Ein Kamerad starb durch Fieber, zwei wurden von der SS erschossen, weil sie getrieben durch Hunger und Verzweiflung Lebensmittel von der Wehrmacht gestohlen hatten, 14 wurden bei Bombenangriffen der Russen getötet. Ich und viele meine Kameraden sind nur deshalb heute noch am Leben, weil die Russen kleinkalibrige Bomben einsetzten. Wir wurden dann auf einem kleinen Kohlenschlepper zurück nach Deutschland gebracht. Welches Schicksal würde uns nun erwarten?
Alle waren deprimiert. Das Armeebekleidungsamt suchte uns zu beruhigen und machte viele Versprechungen. Aber wir kannten die Nazis und misstrauten ihnen. Und wir hatten sie richtig eingeschätzt. Am 24. Februar 1945 brachten sie uns nach Hamburg und wurden dort sofort der Gestapo übergeben, die uns ins Gefängnis von Fuhlsbüttel warf. Wir verbrachten unsere Zeit mit extrem harter Arbeit, hungrig, und dem Terror von den unaufhörlichen Bombenangriffen von fliegenden Festungen, denen wir ohne jeglichen Schutz ausgesetzt waren. Wir wurden von den Frauen getrennt. Am 11. April wurde das Gefängnis geräumt. Wir alle, einschließlich der Frauen, mußten ungefähr 60 Meilen nach Kiel marschieren.
Am 14. April erreichten wir das Arbeits- und Ausbildungslager von Kiel-Russee. Es war ein Vernichtungslager. Täglich verhungerten Menschen, wurden erschossen oder durch Spritzen getötet, und täglich kamen die Bombenangriffe dazu, denen wir auch dort schutzlos ausgeliefert waren. Unzureichende Zuteilung von Lebensmitteln, Ungeziefer überall, Holzbetten ohne Auflagen, keine Decken oder Laken. Gleich in den ersten Tagen verhungerten die ersten unserer Gruppe. Wir wären alle in den nächsten Wochen gestorben, aber ein Wunder passierte: das Schwedische Rote Kreuz kam und rettete uns aus der Hölle. Nun sind wir wieder frei. Während der letzten vier Wochen wurden wir sehr gut behandelt.3 Wir haben sogar angefangen, uns auch körperlich wieder zu erholen. Aber wie sieht unsere Zukunft aus? Wir sind Deutsche und staatenlos. Für uns ältere Leute sehe ich keine Zukunft."
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Hermann Voosen erwähnt in diesem Brief an Leo Gompertz die Tatsache, das die gefangenen jüdischen Menschen durchweg Zwangsarbeit leisten mussten, nur am Rande. Davon waren auch die Frauen betroffen, auch Flora Voosen musste in Riga wie in Libau Zwangsarbeit verrichten, in Hamburg wurde sie zu Näharbeiten eingeteilt. Als sie im AEL Nordmark bei Kiel gefangen war, wurde sie nach Bombenangriffen bei Räumarbeiten eingesetzt.
Noch aus dem sicheren Schweden bemühte sich Hermann Voosen unmittelbar nach Kriegsende um die wenigen Überlebenden, im Besonderen um die nach Gelsenkirchen zurückgekehrten jüdischen Menschen. Er verfasste viele an große Hilfsorganisationen adressierte Briefe, schrieb Berichte, hielt die Namen der Ermordeten und die der → Täter fest. Als er in November 1945 Schweden verließ, um gemeinsam mit seiner Frau in den USA ein neues Leben zu beginnen, nahm der sofort persönlichen Kontakt zu Leo Gompertz in New York auf.
Leo Gompertz war ein ehemaliger Nachbar und Freund aus unbeschwerten gemeinsamen Jahren in Gelsenkirchen. Das Pelzhaus Gompertz befand sich seinerzeit in unmittelbarer Nähe des Elternhauses von Hermann Voosen an der Ecke Bahnhofstraße/Klosterstraße. Familie Gompertz konnte rechtzeitig vor den Nazis fliehen. Hermann Voosen wurde in New York Gründungsmitglied einer privaten Hilfsorganisation für die überlebenden Gelsenkirchener Juden unter Vorsitz von Leo Gompertz. Weitere Mitglieder waren Otto Guthmann, Leni Alexander und Max Klein.
Abb.4: In der Mitte das Ehepaar Flora und Hermann Voosen. Handschriftlicher Vermerk auf der Rückseite: Zum Andenken an unseren gemeinsamen Aufenthalt in Tynningö. Ihre Flora Voosen, Schweden, den 15. Nov. 1945
Flora und Herrmann Voosen lebten 1963 unter der Anschrift Buffalo 7, NY./USA Growley 41. Im Alter von 80 Jahren stirbt Hermann Voosen im Juli 1981. Seine Frau Flora wird 87 Jahre alt, sie folgt ihrem Mann am 21. Oktober 1987.
Vorstehender Artikel in: Bernd Philipsen, Fred Zimmak (Hrsg.), Wir sollten leben - Am 1. Mai 1945 von Kiel mit Weißen Bussen nach Schweden in die Freiheit, 2020, darin Andreas Jordan, Hermann und Flora Voosen: "Der Tod war kein Unbekannter mehr", S. 191-202.
Die Stolperstein-Patenschaften haben der KV Bündnis 90/Die Grünen (Hermann Voosen), eine Sammelpatenschaft (Mathel Voosen) und Thomas Risse (Rosalie, Erich, Erna u. Flora Voosen) übernommen.
Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Oktober 2024.
Quellen:
Briefe v. Hermann Voosenan a.d. Nachkriegszeit, versch. Adressaten (bspw. Fam. Homberg, Fam. Gompertz)
Listenmaterial Jüdische Kultusgemeinde GE, v. 4. Juni 1946, betr. Deportationen
Datenbank der in den Jahren 1933 bis 1945 in Gelsenkirchen verfolgten Jüdinnen und Juden: https://www.gelsenkirchen.de/de/stadtprofil/stadtgeschichten/juedische_verfolgte_in_gelsenkirchen_1933-1945/ (Abruf 10/2024)
Gedenkbuch d. Bundesarchiv: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (Abruf 10/2024)
Mapping the Lives: https://www.mappingthelives.org/
The Wiener Holocaust Libary, Augenzeugenbericht von Herrn Reinhold, Nürnberg, über seine Erfahrungen in Konzentrationslagern und Todesmärschen: https://www.whlcollections.org/fullscreen/105758/2/ (Abruf 10/2024)
Abbildungen:
1: Arbeitszeugnis, ausgestellt 1932 von der Firma Moritz Voosen Quelle: Archiv Gelsenzentrum e.V.
2: Flora Voosen nach ihrer Rettung nach Schweden. Quelle: Reichsarchiv Stockholm
3: Bericht Reinhold, The Wiener Holocaust Libary, https://wienerholocaustlibrary.org/
4: Ehepaar Flora und Hermann Voosen (Mitte). Quelle: Reichsarchiv Stockholm
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