STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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Verlegeort SACHER HÄUSLER

JG. 1891
VERHAFTET 9.9.1939
'SCHUTZHAFT'
SACHSENHAUSEN
1942 RAVENSBRÜCK
ERMORDET 9.6.1942

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Verlegeort SERKA DEBORA HÄUSLER

GEB. KÖSTEN
JG. 1894
DEPORTIERT 1942
RIGA
1944 STUTTHOF
ERMORDET 17.1.1945

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Verlegeort CHAIM BARUCH HÄUSLER

JG. 1926
DEPORTIERT 1942
RIGA
1944 STUTTHOF
ARBEITSLAGER BOCHUM
1945 BUCHENWALD
BEFREIT / ÜBERLEBT

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Verlegeort GITTEL HÄUSLER

JG. 1929
DEPORTIERT 1942
RIGA
1944 STUTTHOF
ERMORDET 26.12.1944

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Verlegeort RACHEL HÄUSLER

JG. 1931
DEPORTIERT 1942
RIGA
1944 STUTTHOF
ERMORDET 15.1.1945

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Verlegeort SELIG HÄUSLER

JG. 1933
DEPORTIERT 1942
RIGA
ERMORDET NOV. 1943

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Verlegeort MENDEL HÄUSLER

JG. 1935
DEPORTIERT 1942
RIGA
ERMORDET NOV. 1943

Verlegung geplant 2024, Verlegeort: Ringstr. 7 (Im NS "Von-Scheubner-Richter"-Str. 7; Ursprüngliche Bebauung nicht erhalten, Verlegung Höhe Zufahrt Ringstr./Contipark-Parkhaus)

Aus Polen kamen sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet, ließen sich in Gelsenkirchen nieder und gründeten hier Familien: Die Brüder Markus und Sacher Häusler. Zunächst verlegten wir im März 2023 Stolpersteine für den Familienzweig von Markus Häusler , Sacher Häuslers Familie soll im nächsten Jahr Stolpersteine bekommen - zwischenzeitlich haben sich auch für diese Stolpersteine Paten gefunden.

* * *

Aus der Beziehung von Sacher Häusler, geb. 4. Juni 1891 in Rozniatow/Galizien und seiner Frau Serka Debora, geb. 24. Dezember 1894 in Przeworsk/Galizien gingen fünf in Gelsenkirchen geborene Kinder hervor: Chaim-Baruch, geboren 7. Juli 1926, Gittel, geboren 29. März 1929, Rachel, geboren 20. März 1931, Selig, geboren 27. März 1933 und Mendel, geboren 7. September 1935. Bis auf den Sohn Chaim Baruch, der im April 1945 seine Befreiung erlebte, wurden alle Mitglieder dieses Familienzweiges von den Nazis ermordet.

Serka Häusler, Gelsenkirchen

Abb.1: Serka Debora Häusler

Sacher Häusler, Gelsenkirchen Häusler

Abb.2: Sacher Häusler

Die zum orthodoxen Teil der Gelsenkirchener Juden gehörende Familie von Sacher Häusler lebte eher karg von kleineren Handelstätigkeiten des Vaters. Diese so genannten „Ostjuden", von denen 1933 etwa 56.000 in Deutschland und hier besonders im Ruhrgebiet lebten, behielten aufgrund der gesetzlichen Regelungen in Nazi-Deutschland ihre dann später ablaufende polnische Staatsangehörigkeit. So verdichtete sich auch im Lebensweg der Familie Sacher Häusler das Dilemma, in dem sich ein Großteil der 1938 in Nazi-Deutschland lebenden "Ostjuden" befanden, die ohne gültigen Pass weder in ihre Heimat zurückkehren noch weiter in andere Länder flüchten konnten.

Sacher Häusler kam wie die meisten "Ostjuden" im Zuge der Industrialisierung und der damit verflochtenen Zuwanderung 1908 ins Ruhrgebiet. Er lebte 1908-1910 in Oberhausen und Mülheim an der Ruhr, 1910-1911 in Herne, 1911-1912 in Recklinghausen, 1912-1914 in Gelsenkirchen. In den Jahren von 1914-1918 diente Sacher Häusler in der österreichischen Armee und gelangte nach Beendigung des Ersten Weltkrieges bis 1920 in russische Kriegsgefangenschaft. 1920 kehrte Sacher nach Polen zurück, um bereits am 22. November 1922 abermals nach Deutschland zu kommen. Nachdem Sacher und seine Frau Serka Debora zunächst wieder in Oberhausen gelebt hatten, zogen sie am 14. April 1924 schliesslich nach Gelsenkirchen.

Bild: Chaim Baruch Häusler, Gelsenkirchen

Abb.3: Chaim Baruch Häusler

1926 wurde in Gelsenkirchen der erste Sohn Chaim Baruch geboren. Die kleine Familie lebte jedoch offensichtlich mehr schlecht als recht im schon damals von ersten Strukturkrisen geschüttelten Gelsenkirchen von kleineren Handelsgeschäften des Vaters. Darüber hinaus wurden Sacher und Serka, beide mit polnischem Pass, regelmäßig von der der Polizeidirektion angegliederten Ausländerkontrolle überprüft.

Zwei Monate nach der Geburt ihres Sohnes wurden Sacher und Serka im September 1926 von Nachbarn wegen wilder Ehe bei der Polizei denunziert. Unter Androhung von Haft wurde das Paar per Zustellungsurkunde von der Polizei aufgefordert, ihr unsittliches Zusammenleben aufzugeben, 1927 heirateten Sacher und Serka. Gleichzeitig türmten sich jedoch neue Schwierigkeiten auf. Immer wieder gab es Probleme mit der Verlängerung der polnischen Pässe, die umso schlimmer waren, da der Vater in der beginnenden Weltwirtschaftskrise versuchte, die weiter anwachsende Familie als Geschäftsreisender durchzubringen. Doch die Zustände verschlechterten sich weiterhin. Bereits seit 1932 bemühte sich das städtische Fürsorgeamt, bei dem auch die Familie Häusler in der Weltwirtschaftskrise Unterstützung beantragen musste, massiv um deren Abschiebung.

Penibel rechnete das Amt aus, dass bis zum Januar 1933 bereits RM 286,25 an Unterstützungsleistungen angefallen waren, und auch in der folgenden Zeit bat das Fürsorgeamt die Polizei immer wieder um die Abschiebung der Familie, die, wie es hieß, "erhebliche Unkosten" verursache. Im Mai 1933 untersuchte daraufhin der Stadtarzt die Familie Häusler auf ihre Transportfähigkeit. Fortan beschäftigten sich verschiedene städtische Behörden, die Polizei und auch das Regierungspräsidium mit dem Fall; dabei erklärte sich die Stadt bereit, die gegebenenfalls anfallenden Transportkosten zu übernehmen. Daneben bemühte sich die Polizei, offensichtlich zum Zwecke einer erleichterten Abschiebung, unbegründete Kontakte des Vaters zu den durch die Nationalsozialisten verfolgten Kommunisten zu konstruieren. Trotz aller Bemühungen scheiterte die Abschiebung schliesslich an den diplomatischen Verwicklungen des Dritten Reiches mit Polen.

Während die Familie nun praktisch staatenlos wurde, eskalierte die nationalsozialistische Rassenpolitik weiter, die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung verschärfte sich Jahr für Jahr. Aus den Quellen ergibt sich, dass die Familie Häusler selbst nun verzweifelt versuchte, Deutschland zu verlassen. Nach einer gescheiterten Einreise nach Polen, versuchte der Vater seit Mitte der 1930er Jahre mit seiner Familie nach Belgien zu entkommen - ebenfalls ohne Erfolg. Die Familie lebte nun in ständiger Unsicherheit, Aufenthaltsgenehmigungen wurden immer nur kurzfristig erteilt.

Nach den Ausschreitungen in der Pogromwoche im November 1938 versuchten die Eltern wenigstens die Kinder zu retten. Im Januar 1939 bemühte sich der Vater um eine Ausreisegenehmigung nach England für die beiden älteren Kinder Chaim Baruch und Gittel, im Februar desselben Jahres wurden entsprechende Anträge auch für die Kinder Rachel und Selig gestellt. Während auch diese Versuche offenbar scheiterten, erhielt die Familie eine Ausweisungsverfügun zum 30. Juni 1939. Diese wurde jedoch zunächst nicht vollstreckt, augenscheinlich hatte Sacher Häusler "Rechtsmittel" eingelegt und so die Ausweisung verzögern können.

Mit Unterstützung des jüdischen Hilfsvereins bemühte sich die Familie mit Hochdruck, wenigstens in den Freihafen von Shanghai, für den zwar kein Visum benötigt wurde, der allerdings auch nicht die Einreise in einen anderen Staat ermöglichte, zu entkommen. Doch auch diese letzte Chance zur Flucht gelang nicht, die Familie musste in Gelsenkirchen bleiben. Der Vater wurde am 9. September 1939 verhaftet und dann zunächst in das KZ Sachsenhausen eingeliefert, dort er wird am 21. November 1939 als "Zugang" registiert. Beim "Abendappell" im Krankenbau von Sachsenhausen wird er am 21. Januar 1941 als "Zugang", am 19. Februar 1941 als "Abgang" in die Listen eingetragen. Der Grund für seine Aufnahme in den Krankenbau ist nicht bekannt. Am 23. März 1942 wird Sacher Häusler in das KZ Ravensbrück (Männerlager) überführt. Dort wird er laut der Gestapo Münster am 9. Juni 1942 ermordet.

Karteikarte Sacher Häusler, Gestapo Münster. Quelle: Arolsen Archives

Abb.4: Karteikarte Sacher Häusler, Gestapo Münster. (Arolsen Archives, 12532969)

Gut Winkel - die schützende Insel : Hachschara 1933-1941

Das brandenburgische Gut Winkel war seit Anfang der 1930er Jahre eine Stätte der Ausbildung deutsch-jüdischer Jugendlicher für die Aufbauarbeit in Palästina, ein Ort der "Hachschara", mit dem in europäischen Ländern die "Chaluzim", also künftige Siedler-Pioniere, auf die Anforderungen der Existenzweise in "Erez Israel" vorbereitet wurden. Zionistisch-chaluzische Gemeinschaftsideale verbanden sich auf dem Lehrgut mit Lebensformen der deutschen Jugendbewegung. Unter den Bedingungen der hitler-deutschen Politik war Gut Winkel bis zu seiner Auflösung 1941 ein rettender und schützender sozialer Raum für jüdische Jugendliche, die von Repression und Verfolgung bedroht waren.

Die verbleibenden Familienmitglieder wurden 1940 in eines der Gelsenkirchener Ghettohäuser ('Judenhäuser') an der Bochumer Str. 92 eingewiesen. Serka Debora unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, ihren ältesten Sohn doch noch aus Nazi-Deutschland zu retten. Chaim Baruch meldete den Behörden Ende Dezember 1940 seinen Aufenthalt auf dem brandenburgischen Gut Winkel (Spreenhagen). In der "Aufenthaltsanzeige für Ausländer" gibt er u.a. an, das sein Aufenthalt auf sechs Monate begrenzt sei, und der Auswanderungsvorbereitung diene. Nach der von den Nazibehörden erzwungenen Aufgabe von Gut Winkel am 19. Juni 1941 zog Chaim Baruch zurück nach Gelsenkirchen.Serka Debora Häusler und ihre Kinder wurden am 27. Januar 1942 von Gelsenkirchen aus in das Ghetto Riga deportiert; die Gelsenkirchener Polizeibehörde meldete daraufhin Serka Haeusler und ihre fünf Kinder als "evakuiert" per 27. Januar 1942 ab.


KZ Stutthof, Todesmeldung Serka Häusler

Abb.5: KZ Stutthof 1945, Todesmeldung Serka Häusler. Angebliche Todesursache: "Herzmuskelschwäche".

Der zehnjährige Selig und der achtjährige Mendel Häusler werden im Zuge der offizielle Liquidierung des Ghettos Riga im November 1943 ermordet. Die Menschen, die in den Augen der SS als noch "arbeitsfähig" galten, wurden in das neu errichtete KZ Kaiserwald bzw. in dessen Außenkommandos verschleppt. Mit dem Vorrücken der Roten Armee wird im August 1944 auch das KZ Kaiserwald in Riga auf dem Seeweg "evakuiert". Die Gefangenen werden über die Ostsee in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht. Mit einem Folgetransport wird Chaim Baruch am 16. August in das KZ Buchenwald gebracht, von dort weiter in das Außenlager des KZ Buchenwald beim Bochumer Verein an der damaligen Brüllstrasse überführt. Dieses Lager wird am 18. März 1945 aufgelöst, die Gefangenen werden zurück nach Buchenwald transportiert. Dort erlebt Chaim Baruch im April 1945 seine Befreiung. Seine Mutter Serka und seine beiden Schwestern waren zu diesem Zeitpunkt bereits tot, Gittel wurde am 26. Dezember 1944, Rachel am 15. Januar 1945 und Mutter Serka am 17. Januar in Stutthof ermordet.

Abb.: Das Grab von Henry Häusler

Abb.: Das Grab von Henry Häusler in den USA

Nach seiner Befreiung kehrte Chaim Baruch Häusler zunächst nach Gelsenkirchen zurück. Dort bekam er als Augenzeuge abscheulicher Verbrechen Morddrohungen von ehemaligen SS-Männern aus Gelsenkirchen. Daraufhin floh Chaim Baruch Häusler nach Münster, arbeitete anonym bei dem Viehhändler Spiegel in Warendorf als Schweinehirte. Nach einigen Monaten bekam er ein Visum für England. Dort lernte er seine spätere Ehefrau, die aus Berlin stammende Liselotte Auerbach kennen. Liselotte, genannt Lilo, hatte im Juli 1939 mit einem der letzten Kindertransporte Nazi-Deutschland verlassen können. Am 29. Oktober 1947 ging Chaim Baruch in Bremen an Bord der "Marine Flasher" - das Schiff brachte ihn nach ihn nach New York. Er lebte dann als Henry Häusler in den USA. 1956 strengte er einen Antrag auf Wiedergutmachung nach seinem Vater Sacher an. Aufgrund der Anerkennung wegen Schadens im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen, erhielt der Sohn als Erbe seines Vaters eine Rentennachzahlung sowie eine Kapitalentschädigung. Henry Häusler starb am 14. Juni 1984 in Minot, USA.

Die Patenschaft für den Stolperstein, der an Serka erinnern wird, hat Asli Beyer, die Stolpersteinpatenschaften für Sacher, Chaim Baruch, Gittel, Rachel, Selig und Mendel Häusler hat Thomas Risse übernommen.

Quellen:
Arolsen Archives
Gedenkbuch Bundesarchiv,
Deportationslisten jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen
Einwohnerkartei Gelsenkirchen, ISG
Yad Vashem
Mapping the Lives - Ein zentraler Erinnerungsort für die Verfolgten in Europa 1933-1945: https://www.mappingthelives.org (Abruf 3/2023)

Abbildungen:
1-3 Ausländerakte, Institut für Stadtgeschichte (ISG)
4+5 Arolsen Archives
6:Grab Henry Häusler, with courtesy of Bernd Haase and the family of Henry Häusler, USA

Literatur:
Vgl. Andrea Niewerth: "Gelsenkirchener Juden im Nationalsozialismus" - Porträt der Familie H., Essen 2001
Vgl. Stefon Goch: "Jüdisches Leben". Essen 2004

An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich vor dem Hintergrund neuerer Quellen, die wir im Zuge unserer Recherchen einsehen konnten (Bspw. Arolsen Archives) für einzelne Familienmitglieder eine vom bisherigen Forschungsstand abweichende Darstellungen der Lebens- und Leidenswege ergeben hat.

Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. März 2023


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen, 3/2023

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