STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN
Ausgrenzung erinnern
HIER WOHNTE
SIMON NEUDORF
JG. 1899
VERHAFTET 1938
ERMORDET 1941
IN SACHSENHAUSEN
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HIER WOHNTE
HERMANN NEUDORF
JG. 1925
ABGESCHOBEN 1938
BENTSCHEN
1942 RIGA
1944 STUTTHOF
1945 BUCHENWALD
TODESMARSCH BUCHENWALD
BEFREIT / ÜBERLEBT
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HIER WOHNTE
FRIEDA NEUDORF
GEB. GRÜNEWALD
JG. 1894
DEPORTIERT 1942
ERMORDET 1944 IN RIGA
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Verlegeort: Markenstraße 19, Gelsenkirchen
Die Verlegung des Stolpersteins für Herman Neudorf fand am 8. Oktober 2012 statt, die Stolpersteine für seine Eltern Simon und Frieda Neudorf wurden bereits am 13. Juli 2009 gesetzt - es waren die ersten in Gelsenkirchen verlegten Stolpersteine.
Hermann Neudorf wurde am 3. Juni 1925 in der Landgemeinde Horst-Emscher als einziges Kind von Simon Arie und Frieda Neudorf, geborene Grünewald, geboren. Am 28. Oktober 1938 holten ihn die Nazis aus dem Schulunterricht und wiesen Mutter und Sohn nach Polen aus. (So genannte "Polen-Aktion") Hermann besuchte zu dieser Zeit das Realprogymnasium in Horst, die heutige Gesamtschule Horst.
Herman Neudorf schreibt in seinen Erinnerungen: "Am 28. Oktober 1938, grade 13 Jahre alt, wurde ich von der Gestapo während der Schulstunde aus dem Unterricht herausgeholt und in das Gefängnis Gelsenkirchen gesteckt. Dort traf ich meine Mutter. Von dort wurden wir nach Polen geschickt. Wir hatten überhaupt nichts bei uns, meine Mutter war auf dem Weg zum Markt festgenommen worden. Außer ihrer Handtasche hatte sie nichts bei sich.
Meinem Vater war berichtet worden, daß sie nur die Männer festnehmen würden - er hatte einen Telefonanruf aus Essen bekommen. Ihm war gesagt worden, daß sie nur polnisch-jüdische Männer festnehmen würden, aber die Frauen zurückließen. Deswegen war er zum Polnischen Konsulat nach Düsseldorf gefahren, um Papiere zu besorgen. Weil er verschwunden war, wurden wir festgenommen. Als er zurück kam, waren wir schon an die deutsch-polnische Grenze geschafft worden.
Abb.: Hermann und seine Eltern Simon und Frieda Neudorf in Lodz, ca. April/Mai 1939
Die Deutschen hatten uns herausgeworfen, und die Polen wollten uns nicht hereinlassen. Es war Ende Oktober, es war kalt, und wir hatten nichts - keine Decken keine Mäntel - gar nichts. Wir kampierten in Schulen, lagen auf Stroh, es gab dort überhaupt nichts, aber ein Telefon. So konnten wir unsere Verwandten in Polen anrufen - Großvater, Großmutter und Tanten. Wir konnten ihnen erzählen, wo wir waren. Sie schickten uns Geld für eine Bahnfahrt, um zu ihnen zu kommen. Unsere Verwandten nahmen uns zunächst einmal auf. Wir hatten Kontakt mit dem Vater aufgenommen und gegen Ende des Jahres kam er uns in Polen besuchen. Seine Mutter war aus natürlichen Gründen verstorben. Wir gingen zu der Beerdigung und wir waren alle wieder zusammen. Dann bekam mein Vater aber die Genehmigung, zusammen mit meiner Mutter nach Deutschland zurückzugehen, um das Geschäft abzugeben, weil ja in der Zwischenzeit die Kristallnacht stattgefunden hatte. Ich denke, es war Februar 1939. Allerdings war da nicht mehr viel übrig, alles war zerstört.
So ging er zurück, um das Geschäft endgültig zu liquidieren, und wir dachten, daß wir danach auswandern könnten. Die Schwierigkeit zu emigrieren und insbesondere in die USA zu emigrieren bestand darin, daß wir unter die polnische Quote fielen, und diese polnische Quote gab uns keine Chance, vor 1943 oder 1944 in die USA einzuwandern. Wir wären auch überall sonst hingegangen, aber es ging nicht. So hatten wir keine Möglichkeit, irgendwohin zu entkommen.
Am 1. September brach der Krieg aus. Ich war in Lodz, mein Vater und meine Mutter waren in Deutschland. Am 2. oder 3. September wurde mein Vater als feindlicher Ausländer verhaftet. Man brachte ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen, nahe Berlin. So war meine Mutter alleine in Deutschland und ich war in Lodz. Wie ich mich erinnere, marschierten die Deutschen am 8. September in Lodz ein. Von da an veränderte sich alles dramatisch. Nun waren die Juden Freiwild. Sie wurden aufgegriffen, auf Lastwagen geladen und von einer Stunde auf die andere wussten die Menschen nicht, was aus ihren Ehemännern, Vätern und Söhnen wurde ... Juden wurden geschlagen oder vertrieben. Manche Polen freuten sich, Stellungen von Juden zu übernehmen. Juden konnten behandelt werden wie man wollte. Das war aber erst der Anfang."
In Polen kam Hermann nach einer kurzen Zeit im Internierungslager Bentschen (Zbsaszyn) bei Verwandten in Lódz unter. Aus dem Ghetto Lódz (Litzmannstadt) gelingt im die Flucht. Am 24. Juni 1940 kann er zunächst nach Gelsenkirchen zurückkehren. Am 27. Januar 1942 wird Hermann zusammen mit seiner Mutter von Gelsenkirchen in das Ghetto Riga deportiert. Mutter Frieda Neudorf wurde bei Auflösung des KZ Kaiserwald am 28. Juli 1944 erschossen.
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Hermanns weiterer Leidensweg führte in das KZ Kaiserwald in Riga, weiter über das KZ Stutthof in das KZ Buchenwald, von dort in das Außenlager von Buchenwald beim Bochumer Verein und wieder zurück nach Buchenwald. Auf einem der Todesmärsche von Buchenwald Richtung Osten wurde Hermann am 13. April 1945 von amerikanischen Soldaten befreit. Heute lebt er unter dem Namen Herman Neudorf in den USA.
An die Verlegung des Stolpersteins für Hermann Neudorf knüpft eine Ausstellung an, die nach einem Zitat von Hermann Neudorf den Titel “Ver- geben muss man, aber Vergessen ist unmöglich…” trägt. Die Ausstellung wird vom 26. Oktober bis 9. November 2012 von Gelsenzentrum e.V. in Zusammenarbeit mit Herman Neudorf in der Gesamtschule Horst präsentiert.
Lehrer und Schüler der Jahrgänge 10, 12 und 13 entwickeln derzeit ein vielfältiges Begleitprogramm: Neben musikalischen Beiträgen planen die Beteiligten Theaterszenen zum Leben Neudorfs „Das Ende der Kindheit“, eine Kunstinstal- lation „Wege der Erinnerungen“ sowie weitere Präsentationen zu den Themen Umgang mit der NS-Zeit und Erinnerungskultur. Schülerinnen und Schüler aus der Sek. II führen durch die Ausstellung.
Bürgerinnen und Bürger sind herzlich zum Besuch der Ausstellung eingeladen. Um vorherige Anmeldung über das das Sekretariat der Gesamtschule Horst (Tel. 4503012) wird gebeten - Die Eröffnungs- und Abschlußveranstaltung können jedoch auch ohne Voranmeldung besucht werden. Die Ausstellung online ansehen: Die Geschichte der Familie Neudorf
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Herman Neudorf hat seinen Leidens- und Verfolgungsweg 1945 skizziert:
Abb.: Herman Neudorf trägt sich 1997 in das Goldene Buch der Stadt Gelsenkirchen ein
Abb.: Familie Steven Neudorf an der Markenstraße 19
Zur Verlegung des Stolpersteins für Hermann Neudorf am 8. Oktober 2012 reiste sein ältester Sohn Steven mit seiner Frau Nancy und ihren Kindern aus den USA an. Steven Neudorf verlas ein Grußwort am Verlegeort, seine Frau Nancy die deutsche Übersetzung des Textes:
"Good afternoon! I am Steven Neudorf and this is my family - my wife Nancy, sons Jack and Danny and my daughter, Emily. My father, Herman grew up on this street and his parents owned a store located at 19 Markenstrasse. My father sends his regards and regrets that he cannot be here today due to health reasons. On behalf of my father and my brothers Howard and Leslie and their families, I would like to thank Andreas and Heike Jordan along with the rest of the organizers of the Stolpersteine program for today’s event. We are fortunate and honored to be here today. We are fortunate because my father was one of the few from Horst who survived. We are also fortunate and thankful that my parents were able to come to America, distance themselves from the horrors of their youth and create a warm, nurturing life for us and our children. And yet the experience of what happened to them and their families never went away.
My parents found comfort among other survivors where no explanations were necessary. Many survivors, like my mother Bella, tried to suppress those memories by refusing to talk about her experience. In my mother’s case, those memories resurfaced as she deteriorated from the dementia of Alzheimers. At a time when she could barely communicate with us, she began having nightmares about the Holocaust requiring additional medications to help her be at peace.
When I was a child, I wondered why didn’t we have grandparents? As I got older and my parents explained the Holocaust to us, I became angry with Germany and its people for taking away a part of growing up that most others still look back upon with fondness. Today, that anger is gone thanks in part to efforts by the Stolpersteine program to honor and respect the memory of its citizens and what happened to them.
We are honored to be among the citizens of Horst as we memorialize its former citizens. We are honored to be among a German community that has shown remarkable courage to acknowledge what their ancestors had perpetrated barely one generation ago. In contrast, it took the US more than 100 years after Lincoln outlawed slavery to have to pass a law that officially granted civil rights to all Americans. Sixty years ago we would not be gathering as we are today because we are Jewish. Today we are fortunate and privileged to live in a society that places a high value on personal and religious freedom. It is my hope that the constant reminders etched into these stones will help make
sure that we and all of our descendants never forget what happened here."
Staatsschutz ermittelt
Die WAZ berichtete: (...) Die Aktion des Gedenkens an NS-Opfer wurde durch bösartige Verbalattacken junger, zum Teil aggressiv wirkender Leute, die sich mit etwas Abstand vom Verlegungsort aufhielten, empfindlich gestört. Für kurze Zeit empfanden die meisten Besucher der Stolperstein-Aktion die Situation als durchaus bedrohlich, mindestens aber als äußerst unangenehm und in höchstem Maße beschämend. Nicht zuletzt weil Sohn Steven Neudorf mit seiner Familie eigens aus den USA angereist war, um der Steinverlegung vor dem letzten selbst gewählten Wohnort seines Vaters und seiner Großeltern teilzunehmen.(...) weiterlesen
Die diesjährige Verlegeaktion fand ihren würdigen Abschluss mit einer beeindruckenden Matinee im Schloss Horst. Im Anschluss daran nutzten viele der Gäste die Gelegenheit, sich im Gästebuch des Schlosses einzutragen.
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Aus dem Leben von Herman D. Neudorf
The Memorys of Herman D. Neudorf - That was Riga
2009: Stolpersteine für Simon und Frieda Neudorf
Frieda und Simon Neudorf
Simon Neudorf, der aus Lodz in Polen stammte, wurde am 7. Februar 1899 geboren. Seine Frau Frieda Neudorf, geborene Grünewald wurde am 20. April 1894 in Herford geboren. Simon Neudorf wurde nach dem deutschen Überfall auf Polen in das KZ Sachsenhausen verschleppt und dort am 14. März 1941 ermordet. Die Urne mit seinen sterblichen Überresten wurde der Familie gegen Gebühr zugestellt. Die Beisetzung der Urne fand am 16. April 1941 auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Ückendorf statt.
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"Ich betrachte diese Steine als Symbole der Wiedergutmachung"
Herman D. Neudorf, USA
Herman Neudorf konnte altersbedingt nicht persönlich an der Verlegung der STOLPERSTEINE für seine Eltern teilnehmen. Andreas Jordan hat ihn auf seinen Wunsch vetreten und seine Gedanken und Worte, die er zu Papier gebracht hatte, an der Markenstrasse 19 verlesen. Den englisch-sprachigen Text verlas Lothar Lange. Der jüdische Kantor Yuriy Zemskyi betete das "El Male Rachamim" für die Opfer des Holocaust.
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde!
Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen, um meine lieben Eltern - Simon und Frieda Neudorf - zu ehren. Mein seeliger Vater wurde im KZ Sachsenhausen umgebracht. Er verliess Polen als junger Mann, um In Deutschland eine bessere Zukunft zu finden. Er liebte sein Horst-Emscher von ganzen Herzen. Meine selige Mutter kam aus Herford, eine geborene Grünewald - Ein Name, der seit Generationen in Westfalen bekannt ist. Ihr Bruder Sigfried Grünewald zog als Freiwilliger 1914 in den Krieg und ist in Russland gefallen. Frieda wurde 1944 in Riga erschossen. Mögen diese Steine eine Ehre und Andenken sein an zwei liebe gute Menschen, aber auch eine Mahnung ,dass Rassenwahn und Intoleranz keinen Platz mehr hat. Ich halte diesen Tag als ein Zeichen der Versöhnung im Herzen.
Lieber Andreas: Ich weiss, das es ohne Deine Hilfe zu diesem Tag nie gekommen wäre und danke Dir nochmals von ganzem Herzen. Mein Dank geht auch an die Stadt Gelsenkirchen für deren Unterstützung und Befürwortung. Ich wäre gerne selbst gekommen, aber mein Alter und die Entfernung erlauben mir das nicht mehr.
Nur Gutes wünscht ihnen allen,
Herman Neudorf
Ladies & Gentlemen, dear friends,
How can I adequately describe to you my deep appreciation for what you and your community have accomplished by honoring my beloved parents Frieda and Simon Neudorf, the untimely victims of NAZI-persecution. My Vater loved his adopted Germany with all his heart. Escaping in his youth from his native Poland who denied him any opportunity for advancement in life,he found Germany friendly and wide open to his resourceful spirit.
My mother Frieda, a kind soul, born in Herford, nee Grünewald, a name in Westfalia known for Generations and whose brother Siegfried Grünewald volunteered for the Kaiser in 1914 and was killed on the Russian front. May this notable deed of placing these STOLPERSTEINE in their memory today serve as a remainder for Generations to come to be constantly aware of what blind prejudice can lead to. I consider these Stones as emblems of redemption!
My gratitude for my friend Andreas Jordan,the City of Gelsenkirchen, where I was born has no boundary. You must forgive me for not beeing able to be with you in person. Unfortunately, old age has its limitations. but Andreas Jordan will repesent me with all his heart.
With good wishes and greetings to all,
yours Herman Neudorf
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
Wie kann ich meine tiefe Anerkennung für das, was Sie und ihre Stadt vollbringen, dadurch dass sie meine geliebten Eltern Frieda und Simon Neudorf, die frühen Opfer der Nazi-Verfolgung, ehren, angemessen ausdrücken? Mein Vater liebte sein angenommenes Deutschland von ganzem Herzen. Nachdem er als Jugendlicher seiner Heimat Polen entkommen war, wo ihm eine erfolgreiche Zukunft verwehrt wurde, fand er Deutschland freundlich und offen für seinen einfallsreichen Geist vor.
Meine liebe Mutter Frieda war eine geborene Grünwald, ein Name, der in Westfalen seit Generationen bekannt war. Ihr Bruder Siegfried Grünewald kämpfte freiwillig für den Kaiser und starb 1914 an der russischen Front. Möge dieser denkwürdige Akt der Stolpersteinlegung in ihrem Gedenken als Mahnung an kommende Generationen dienen, sich ständig dessen bewusst zu sein, wozu blinde Vorurteile führen können. Ich betrachte diese Steine als Symbole der Wiedergutmachung.
Meine Dankbarkeit gegenüber meinem Freund Andreas Jordan und der Stadt Gelsenkirchen ist grenzenlos. Sie müssen verzeihen, dass es mir nicht möglich ist, persönlich anwesend zu sein. Unglücklicherweise hat das Alter seine Einschränkungen, aber Andreas Jordan wird mich mit ganzem Herzen vertreten.
Mit guten Wünschen und Grüßen an alle,
Hochachtungsvoll,
Herman Neudorf
→ Fotostrecke von der Verlegung der STOLPERSTEINE für Simon und Frieda Neudorf an der Markenstrasse 19
Abb. 1: Die Markenstrasse in Horst-Emscher, um 1910. Blickrichtung Industriestrasse in Richtung heutige Schloßstrasse. In der Nazi-Zeit befanden sich an der Markenstrasse zwei sogenannte "Judenhäuser", die Häuser Markenstrasse Nr. 28 und Nr. 29.
Abb. 2: Franzstraße, Ecke Markenstrasse in Horst-Emscher, um 1915.
Abb. 3: Industriestrasse, Ecke Markenstrasse in Gelsenkirchen-Horst, um 1936. Das Schuhhaus des jüdischen Kaufmanns Hugo Herzberg ist bereits "arisiert", im ehemaligen Geschäft des jüdischen Kaufmanns Max Bechhoff befindet sich nun Lebensmittel Specht, in der 2. Etage wohnte in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre Familie Simon Neudorf.
Abb. 1-3 Sammlung Volker Bruckmann
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Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. März 2009. Editiert Oktober 2012.
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