Abb.: Regina Spanier mit ihrer Enkelin Ilse Reifeisen im Jahre 1935. Ilse lebt heute in Schweden.
Es sind natürlich zunächst persönliche Briefe der Eltern an eine 13jährige Tochter in der Fremde mit dem Inhalt: Wie sie sich zu benehmen hat, was sie anzuziehen hat und immer wieder die Ermahnung ja viel zu lernen. Aber die Tochter wird auch mit Aufgaben überhäuft. Stellen Sie sich eine 13jährige vor, die an die unterschiedlichsten Behörden, an irgendwelche Bekannte und Freunde im Ausland schreiben soll, um auf die Not der Eltern und Großmutter in Deutschland aufmerksam zu machen und immer wieder versuchen soll, eine Ausreise für die Eltern zu erwirken. Nebenbei musste sich Ilse in die neue Umgebung in Schweden, die Pflegeeltern, die neue Sprache und Schule eingewöhnen. Ein sehr schweres Unterfangen für ein Kind.
Diese Briefe geben aber auch gut einen Einblick in die Situation in Gelsenkirchen wider. Zunächst setzt Gertrud Reifeisen alles daran, ihren Mann aus dem Gelsenkirchener Gefängnis zu befreien, was ihr nach ca. 1 Jahr gelingt. Dann versucht das Ehepaar verzweifelt, zu emigrieren, zunächst nach Russland, Ukraine, China, dann später nach Bolivien, Chile, USA, Israel, Schweden.
In einem Brief vom 5. April 1940 heißt es: „Und hast du bemerkt, dass wir für Vati unbedingt eine Ausreise haben müssen! Sie sollen sich bemühen und genau erkundigen! Ich befürchte, dass unsere Ausreise nach Palästina nun doch nicht klappen wird, auch werde ich die Visums nach Bolivien nicht mehr bekommen, da wieder eine Sperre eingesetzt hat. Wir könnten den Landweg nach Shanghai nehmen..." und weiter „Ostern war hier sehr schönes Wetter, spazieren gehen wir aber nicht! Hierzu fehlt mir vollständig die Ruhe, ich bin immer am Grübeln, wie bekommen wir Vati heraus! Und wohin?" Sie versuchen immer wieder Personen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis über die Tochter in Schweden für eine Ausreise-Bürgschaft zu gewinnen. Aber sie bekommen nur Absagen. Bis zum Schluss geben sie die Hoffnung nicht auf, ausreisen zu können.
Im März 1941 können wir noch in einem Brief lesen: „Was sagst du dazu, dass wir ein Affidavit in Aussicht haben? Hoffentlich erleben wir keine Enttäuschung...." Aber ein paar Monate später im Dezember 1941 schreibt Gertrud Reifeisen: „Hat das Auswärtige Amt bereits geantwortet? Können wir noch mit einem Visum rechnen? Ich hoffe immer noch bis zum letzten Augenblick! Und selbst wenn wir jetzt nach dem Osten kommen, so haben wir vielleicht durch das Einreisevisum nach Schweden noch eine Chance. Man darf den Mut nicht sinken lassen."
Im November 1941 bekommen sie die Nachricht von einer "Evakuierung in den Osten". Gertrud berichtet an ihre Tochter: „Ich muss dich leider vorbereiten, dass wir etwa Anfang Dezember 41 nach Polen und zwar mit Oma gehen. Arthur und Alfred werden uns noch folgen.......Ich habe für Oma & mich eine warme Mütze gearbeitet, auch Pulswärmer aus alten Socken von Vati. Dann habe ich aus Katzenfellen einen Brustschützer." Und im Dezember beantwortet die Mutter die Fragen der Tochter: „Nein, mein Liebchen, wohin wir kommen, wissen wir nicht; die Oma begleitet uns. Ich schrieb dir ja bereits, dass wir 1 Koffer und 1 Rucksack mitnehmen, falls wir also mit den Sachen ankommen, sind wir für die erste Zeit versorgt, bedauerlich ist nur, dass wir keine Betten mitnehmen. Nun warum soll ich es dir ausmalen bevor wir dort sind und ich dir hoffentlich die Tatsachen berichten kann, und vielleicht sehe ich auch zu schwarz. Täglich danke ich dem Herrgott, dass Du dort gut aufgehoben bist und Dir all dies erspart bleibt!" Ein paar Wochen später, im Januar 1942 merkt man die Verzweiflung der Eltern.
Ich zitiere aus den letzten Briefen vom 5., 12., 14. und 16. Januar 1942: Am 20.1. geht wieder ein Trans- port, ob wir ihm angeschlossen werden; wissen wir noch nicht, wenn ich nur daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut". „....Von Onkel Arthur erhielten wir heute morgen die Nachricht, dass sie am 19.d.M. nun fortkommen, wir selbst rechnen stündlich mit der Benachrichtigung. Wohin die Reise geht wissen die Herforder nicht, die Ungewissheit ist schlimm. Wie mir Samstag gesagt wurde, dürfen wir nun Betten mitnehmen, wenigstens ein Lichtblick in dieser Kälte." „Soeben erhalte ich von Onkel Arthur ein Telegramm, das der Transport unbestimmt verschoben, wir freuen uns mit ihm. Uns wurde der 25.1. angegeben, also - falls keine Änderung eintritt, kann ich dir ab 22.1. nicht mehr schreiben.. Für Oma versuchen wir zu reklamieren, hoffentlich mit Erfolg! Denn so eine radikale Lebensumstellung ist für eine 74jährige Frau keine Kleinigkeit..... „Wir machen uns nun zum 25. fertig. ... Gebe es Gott, dass nochmals eine Verzögerung eintritt, für jeden Tag, den ich noch in meinem Bette, im warmen Zimmer zubringen kann, danke ich meinem Schöpfer, das Gespenst der Evakuierung steht ständig vor mir. Hoffentlich kommt Oma mit der Reklamation durch. Sodass ihr wenigstens das Los erspart bleibt."
Der Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Die Oma, Regina Spanier, wird mit ihrer Tochter Gertrud Reifeisen, ihrem Schwiegersohn Simon Reifeisen und vielen anderen Juden aus Gelsenkirchen, Dorsten, Recklinghausen, Herten, Marl in Gelsenkirchen am Wildenbruchplatz gesammelt und am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert. Bei der Liquidierung des Ghettos Riga 1943 wird Regina Spanier ermordet. Ihre Kinder Arthur, Erna und Gertrud Spanier sowie die jeweiligen Ehepartner und weitere Verwandte werden ebenfalls ermordet.
Die Enkelin von Regina Spanier, Elise Hallin-Reifeisen, lebt in Schweden. Sie jetzt 82 Jahre alt und konnte heute nicht persönlich teilnehmen. Sie schreibt:
„Ich denke sehr viel in diesen Tagen an die Stolpersteinlegung für meine Großmutter, sehe aber ein, dass ich jetzt zu alt bin, um auch dabei zu sein. Finde den Gedanken sehr schön mit einem Gebet für die Toten bei dieser Gelegenheit. Ich bin sicher, dass alles feierlich wird und danke allen für diese Initiative."
Dorsten, im Juli 2009
Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel
|