STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Verlegeort LOTHAR KEINER

JG. 1908
VERHAFTET 17.4.1940
VERURTEILT § 175
1940 GEFÄNGNIS BOCHUM
1941 GEFÄNGNIS LINGEN
1942 NEUENGAMME
ERMORDET 27.11.1942

Verlegeort: Koststraße/Kreuzung Johannastraße, Gelsenkirchen
(Das Haus Helenenstraße 13 - die vorrübergehend auch Koststraße hieß - existiert heute nicht mehr)

Dieser Briefumschlag wurde von Lothar Keiner an seine Mutter Mary Keiner in den USA adressiertAbb.1: Dieser Briefumschlag wurde von Lothar Keiner an seine Mutter Mary Keiner in den USA adressiert. Der Umschlag befindet sich in der Haftakte und hat die Adressatin nie erreicht.

Wir erinnern an Lothar Keiner

Lothar Adolf Wilhelm Keiner, geboren am 18.8.1908 in Mannheim, letzter freiwilliger Wohnort in der Helenenstr. 13 in Gelsenkirchen-Horst, Beruf: zuletzt Montage-Arbeiter. Im April 1940 von der Kripo (Gelsenkirchen)-Buer verhaftet wg. homosexueller Kontakte; keine Vorstrafen; Verurteilung nach §175 vom Landgericht Essen am 15.6.1940 zu 2 Jahren Gefängnis; Haft in den Gefängnissen Bochum (Krümmede) und Lingen/Emsland. Nach voller Verbüßung der Haft von der Polizei Recklinghausen in sog. "Vorbeugehaft" genommen mit anschließender Deportation in das KZ Neuengamme bei Hamburg im April 1942. Dort ermordet am 27. Nov. 1942, angebliche Todesursache „Versagen von Herz und Kreislauf bei Magen- und Darmkatarrh“



Was wissen wir über ihn?

Lothar A. W. Keiner kam am 18. August 1908 in Mannheim, Wespinstr. 4, zur Welt. Am 10. Januar 1910 wurde dort auch sein Bruder Oswald Eduard Keiner (Tod zu einem unbekannten Zeitpunkt, wahrscheinlich in den USA) geboren. Eltern waren der Syndikus (Volkswirtschaftler im Wirtschaftsministerium in Stuttgart) Dr. Oswald Ehrenfried Keiner (*Schweinschied bei Meisenheim 8.7.1879 bis Essen 1.6.1935) und Marie Keiner (später: Mary Keiner), geborene Jaiser (*Stuttgart 4.10.1882, Tod zu einem unbekannten Zeitpunkt, wahrscheinlich in den USA).

Die Ehe der Eltern Keiner wurde am 15. November 1906 in Stuttgart geschlossen, wohin die vierköpfige Familie im Jahr 1915 von Mannheim zog. Vater O.E. Keiner war im ersten Weltkrieg Soldat. Aus den erhaltenen Scheidungsdokumenten von 1919 des Landgerichtes Stuttgart lässt sich entnehmen, dass „die Ehe der Parteien von Anfang an nicht besonders glücklich war.“ Im Scheidungsverfahren warfen sich die Eheleute gegenseitig außereheliche Kontakte vor, sie berichteten von erster Trennung – sie lebten aber mit getrennter Haushaltsführung in der gleichen Wohnung weiter zusammen. Die beiden Kinder wurden unter diesen Bedingungen zwangsläufig in den ehelichen Konflikt der Eltern verstrickt. Es wurde von vergeblichen Versöhnungsversuchen berichtet, die aber letztlich eine Trennung nicht verhinderten. Beide Elternteile wurde durch das Gericht für schuldig befunden am Scheitern ihrer Ehe.

21 Jahre später berichtete Lothar Keiner in dem gegen ihn angestrengten Gerichtsverfahren wegen homosexueller Kontakte vor dem Landgericht in Essen, dass „er auch eine unglückliche, ihm heute noch nachhängende Jugend gehabt“ hätte.

Nach der Scheidung der Eltern erreichte Lothar Keiner den Schulabschluss (ca. 1925) der mittleren Reife am Realgymnasium. Über seinen Werdegang gab er im Jahr 1940 an, dass er keine Lehre gemacht habe, sondern bei der Essener Allgemeinen Zeitung als Stenograph gearbeitet habe bis 1927, danach in der Landwirtschaft, dann von 1929 bis 1935 in den USA, danach in Deutschland im Hotel- und Baugewerbe und anschließend danach seit 1939 bei der Hochdruck-Rohrleitungs G.m.b.H. (in Gelsenkirchen) gearbeitet habe. Dort verlor er am 17.4.1940 die Arbeitsstelle durch Entlassung wegen seiner Verhaftung aufgrund des Vorwurfes homosexueller Kontakte.

Die überlieferten Dokumente aus dem Jahr 1940/1941 beschreiben Lothar Keiner: Er war 1,80 Meter groß, von schlanker Statur, ca. 72 kg schwer, hatte ein ovales Gesicht, dunkelblonde Haare, braune Augen, einen kleinen Mund, oben hatte er ein künstl. Gebiß, am linken Fuß fehlte der zweite Zeh. Er war nicht vorbestraft. Außerdem sprach er neben der deutschen Sprache auch Englisch, Französisch und Italiensch (was er so gut beherrschte, dass er – zwar erheblich fehlerbehaftet - mit einem Priester im italienischen Ort Ripatransone aus der Haft in italienscher Sprache korrespondierte). Die überlieferten Briefe, die er während der Haft schrieb an seine Mutter in den USA, außerdem an eine Bekannte der Eltern in Dortmund und den kath. Priester in Italien, zeigen, dass er ein politisch informierter und interessierter Mann war, dass er außerdem zahlreiche Orte und Länder durch Reisen kannte. Er war evangelisch und gläubig, las gerne und bildete sich weiter.

Mutter und Bruder Oswald Eduard Keiner ebenso wie Lothar zogen Ende der 1920er Jahre in die USA, jedoch kehrten Oswald und Lothar Keiner im Jahr 1935 wieder nach Deutschland zeitweise zum Vater zurück. Dieser hatte in Essen im Jahr 1928 erneut geheiratet, die zweite Ehefrau wurde Gertrud Keiner, gebürtige Wimmer, geb. am 24.4.1902 in Gladbeck. Die zweite Ehefrau von Vater Keiner war also nur 6 Jahre älter als dessen Sohn Lothar. Aus der zweiten Ehe des Vaters gingen die Kinder Heinrich Keiner (* Essen 1929, Heirat in Essen 1955) und Waltraud Keiner (*Essen 1932, Heirat in Essen 1957, nunmehr Waltraud Bögel, genannt Stratmann) hervor. Lothar hatte also einen Bruder und zwei deutlichst jüngere Halbgeschwister.

Vater Oswald Ehrenfried Keiner starb in Essen am 1.6.1935, möglicherweise war eine schwere Erkrankung des Vaters der Grund, warum die Söhne aus den USA nach Essen kamen. Sohn Oswald Eduard K. kehrte nach dem Tod des Vaters zur Mutter in die USA zurück. Lothar verlies Essen und ging nach Hamburg, kehrte aber 1936 für einige Wochen in den Haushalt der zweiten Ehefrau seines Vaters nach Essen zurück, er verzog dann nach Gütersloh und im August 1939 wurde er in Gelsenkirchen Untermieter für ein möbliertes Zimmer bei der Familie H. Er hatte in Gelsenkirchen Arbeit gefunden.

Von dem 16 Jahre alten Sohn der Familie H. wurde Lothar Keiner häufig in seinem Zimmer besucht, man verbrachte die Freizeit gemeinsam mit Unterhaltung, Kartenspiel, Feiern mit weiteren Freunden des H. und einem Arbeitskollegen von Lothar. Alle diese Jugendlichen waren im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Auch die Sylvesterfeier 1939 verbrachte man gemeinsam mit drei Mädchen.

Es kam zu mehrmaligen sexuellen Kontakten zwischen Lothar K. und dem Sohn seiner Zimmervermieterin. In späteren Verhören werden Lothar auch sexuelle Kontakte zu mehreren anderen männlichen Personen aus der Clique vorgeworfen, ebenso zu einem Arbeitskollegen und es gab auch mehrere vergebliche sexuelle Annäherungen, die aber von den Bekannten selbstbewusst zurückgewiesen wurden. Außerdem wurde im Urteil des Landgerichtes Essen vom 15. Juni 1940 ein Annäherung an einen Arbeitskollegen dokumentiert: „Der 17 Jahre alte Zeuge Ha. war ein Arbeitskamerad des Angeklagten. (…) Der Zeuge Ha.. lehnte dieses Ansinnen ab und verprügelte zugleich den Angeklagten wegen dieses Ansinnens.“

Exkurs

Die Nationalsozialisten, seit 1933 an der Macht, haben ihr rassistisches und menschenverachtendes Weltbild in sogenannte „Gesetze“ gegossen: U.a. verschärfen sie mit Wirkung vom 1. Sept. 1935 den noch aus der Kaiserzeit stammenden § 175, der einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellt. Sie erweitern und verschärfen Tatbestände und konstruieren und führen neue ein (so kann bereits Küssen oder wollüstige Blicke und Kontaktaufnahme zu Ermittlungen und Bestrafung führen, ebenso wird erstmals mann-männliche Prostitution strafrechtlich verfolgt), sie vergrößern den Strafrahmen des § 175 von Gefängnis auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren. Sie bespitzeln Treffpunkte von Homosexuellen, führen Razzien durch, legen Listen von namentlich bekannten Homosexuellen an, üben Zensur aus und verbieten Zeitschriften und zerschlagen Vereine. Zudem erzeugt auch die öffentliche Hetze in der gleichgeschalteten Presse und den NS-Propaganda-Medien („Röhm-Putsch“) gegen homosexuelle Männer ein gesellschaftliches Klima der Angst und Einschüchterung. Die Nationalsozialisten nutzen und vertrauen auf und vertiefen die in der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber Homosexuellen und stempeln sie zu sogenannten „Volksfeinden“. Denunzierungen sind Teil dieses Szenarios, Denunzianten fühlen sich sicher. Ebenso wird der §175 als Werkzeug zur Verfolgung von katholischen Geistlichen eingesetzt. Die zum Teil „unbequeme“ katholische Kirche soll so in Misskredit gebracht werden. Zur systematischen Verfolgung wird bereits 1934 ein Sonderdezernat Homosexualität bei der Gestapo geschaffen, verschärfend wird im Jahr 1936 eigens die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ installiert. Die Zucht von „arischen“ Menschen ist das Ziel. Personen, die nicht zur konsequenten Bevölkerungsvermehrung beitragen, sollen „ausgemerzt“ werden. Mit dem 15. Sept. 1935 wird auch die Spirale der Verfolgung von jüdischen Bürgern durch die erlassenen Nürnberger Rassegesetze weitergedreht.

Das Gericht sah in Lothar Keiner – in Übereinstimmung mit der Ideologie der Nationalsozialisten gegenüber Homosexuellen – den alleinigen Schuldigen. Gegen den Zeugen Ha. wurde nicht wegen Körperverletzung ermittelt. Obwohl weder von Zwang noch Gewalt an irgendeiner Stelle im Verhalten von Lothar Keiner die Rede war (… „die Zeugen Ja. und H. liessen sich von ihm betören“), die Jugendlichen also freiwillig und aus eigenem Antrieb handelten, wurde Lothar Keiner zu einer drastischen Strafe von zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Keiner selbst war „geständig“. „Zu seiner Entschuldigung führt er an, er habe kein Geld gehabt, um ins Bordell zu gehen. Dadurch sei er auf diese Dinge verfallen. Er habe eine unglückliche Jugend gehabt.“ Das Gericht wertete das „Geständnis“ als positiv und dass der Angeklagte nicht vorbestraft war. Weil er „Reue“ gezeigt habe, wurde auf eine härtere Zuchthausstrafe verzichtet: „Das Gericht will dem Angeklagten damit zugleich Gelegenheit geben, sich zu läutern und des Lasters für die Zukunft Herr zu werden. Sollte er dennoch rückfällig werden, so wird er die ganze Schwere des Gesetzes später zu tragen haben.“

Weil Lothar Keiner „geständig“ war, wurde die Untersuchungshaft vom 18. April bis 15. Juni 1940 auf die Strafe angerechnet, so dass er rein rechnerisch am 18.4.1942 hätte entlassen werden sollen. Doch das geschah nicht. Er verbüßte die volle Strafe. Dazu war er zunächst im Gefängnis Bochum inhaftiert und wurde am 25. März 1941 in die Strafanstalt Lingen/Emsland verlegt. Nachdem Keiner mehr als die Hälfte der Strafe abgesessen hatte, stellte er von Lingen aus ein Gnadengesuch an den Oberstaatsanwalt in Essen. Dieser nahm wiederum Rücksprache mit dem Gefängnisleiter in Lingen, der wiederum antwortete dem Oberstaatsanwalt am 1.9.1941: „Der Monteur Kainer verbüßt (…) 2 Jahre Gefängnis (…) bis 18.4.1942 wegen widernatürlicher Unzucht. Er ist nicht vorbestraft. Führung und Fleiß sind gut. Bei der Schwere der Tat und der Gefahr, die er für die männliche Jugend darstellt, wird ein Gnadenerweis nicht befürwortet. Er muß die ganze Härte der Strafe erfahren um von Rückfällen abgeschreckt zu werden.“ Zu diesem Zeitpunkt war der Himmler-Befehl von 1940 in Kraft und sowohl der Staatsanwalt in Essen als auch dem Leiter des Gefängnisses in Lingen kannten diesen Befehl.

Heinrich Himmler, Chef der deutschen Polizei und gleichzeitig Chef der gefürchteten SS, einer Untergliederung der Nazi-Partei, hatte dazu am 12. Juli 1940 pauschal bestimmt:

„Ich ersuche, in Zukunft Homosexuelle, die mehr als einen Partner verführt haben, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen.“

Dieser Befehl von Himmler, einem der maßgeblichen Täter des NS-Regimes und einem Fanatiker der Homosexuellenverfolgung, hatte zur Folge, dass diejenigen, die die verhängte Haftstrafe voll verbüßt hatten, unmittelbar am Strafhaftende in ein KZ deportiert wurden. Als „Vorbeugehäftlinge“ kamen sie nicht mehr in Freiheit sondern zu Tode. Sie starben durch Erschießung bei angeblichen oder von der SS inszenierten Fluchtversuchen oder durch Folter oder langsame Auszehrung aufgrund Unterernährung bei katastrophalen hygienischen Bedingungen verbunden mit schwerster Sklavenarbeit. Das alles war sowohl dem Staatsanwalt als auch dem Gefängnisleiter bekannt. Sie wussten also, dass sie Lothar Keiner mit Ablehnung des Gnadengesuches vom 8. Sept. 1941 wahrscheinlich in den Tod schickten. Und so kam es:

Zum Vergrößern KLICK!Abb.2: Dokument aus der Haftakte Lother Keiner, Strafanstalt Lingen/Ems. Zum Vergrößern anklicken.

Nach Ablehnung des Gnadengesuches verbüßte Lothar Keiner die volle Strafe bis zum Ende am 18.4. 1942. Und um sich auch ganz sicher zu sein, dass Keiner dann auch tatsächlich am Haftende nicht in Freiheit gelangte, sondern von der Polizei in Vorbeugehaft genommen wurde, nahm der Leiter der Lingener Strafanstalt eigeninitiativ Kontakt mit der Kripo in Gelsenkirchen auf. Er teilte schriftlich mit: Der Montagearbeiter Lothar Keiner betrachte nach früher geschriebenen Briefen die USA als seine Heimat. Wörtlich habe Keiner in einem Brief geschrieben: „Ich habe dort drüben die Hand auf den Säbel gelegt und bleibe der Fahne treu bis zum Letzten.“ Die Mutter lebe in Newyork. Und wörtlich schreibt der Gefängnisleiter: „Bei der Gefahr, die er für die männliche Jugend darstellt erfolgt die Mitteilung, trotzdem Keiner nur mit Gefängnis bestraft und nicht vorbestraft ist.“

Zum Vergrößern KLICK!Abb.3: Dokument aus der Haftakte Lother Keiner, Strafanstalt Lingen/Ems. Zum Vergrößern anklicken.

Die NS-Täter in Justiz, Strafvollzug und Polizei vollzogen ihre Maßnahmen gegen Lothar Keiner. Am 1. April 1942 teilte die Staatliche Kriminalpolizei, Krimi nalpolizeiliche Stelle Recklinghausen, Abteilung Erkennungsdienst u. Berufsverbrecherbekämpfung, dem Leiter der Haftanstalt in Lingen mit: „Gegen den dort einsitzenden Strafgefangenen Lothar Keiner sollen im Anschluß an die Strafverbüßung vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden. Ich bitte, Keiner mittels Sammeltransport nach hier zu überführen.“ So geschah es: Die Vorbeugehaft seit 21.4.1942 durch die Kripo Recklinghausen führte wenig später zur Deportation in das KZ Neuengamme. Hier wurde Lothar Keiner zur Nummer 7790, Haftkategorie „BV“.

Halten wir fest: Allein aufgrund seiner sexuellen Kontakte zu anderen männlichen Personen wird Keiner verurteilt zu Gefängnis, anschließend am Haftende ohne neues Gerichtsurteil in Vorbeugehaft genommen und in das KZ Neuengamme deportiert, dort registriert als Berufsverbrecher (BV). Ob er auf seiner Häftlingskleidung zusätzlich zur Nummer für alle sichtbar einen sogenannten „Rosa Winkel“ oder einen „Grünen Winkel“ für die Gruppe der gewöhnlichen Kriminellen (Mörder, Schwerverbrecher, etc.) tragen mußte, ist nicht überliefert. Fest steht jedoch: Der „Rosa Winkel“, dieses rosafarbene Stoffdreieck, stigmatisierte die Homosexuellen in den Konzentrationslagern. Neben den jüdischen Bürgern gehörten die als Homosexuelle gekennzeichneten Männer zur niedrigsten Häftlingskategorie, was ihre Chancen auf Überleben gegenüber den anderen Häftlingen deutlich verschlechterte.

Oft wurden in den Konzentrationslagern Homosexuelle aber auch mit dem Doppelkürzel als „BV 175“ registriert. (Was bei Lothar Keiner aus unbekannten Gründen unterblieb bzw. aufgrund der lückenhaften Dokumente nicht mehr nachweisbar ist.) Dieses Doppelkürzel hat die Bedeutung: „Berufsverbrecher nach §175“. Es wurde denjenigen Männern verpasst, die im Sprachgebrauch der SS als homosexuelle Wiederholungstäter galten bzw. „mehr als einen Partner verführt“ hatten. Die Entmenschlichung und Verdinglichung erreichte nicht nur sprachlich ihren Höhepunkt.

Aus dem KZ Neuengamme sind nur sehr lückenhaft Dokumente erhalten geblieben, da die SS-Täter als Betreiber der Konzentrationslager kurz vor der Befreiung des Lagers im Jahr 1945 versuchten, die Belege ihrer Verbrechen und Greueltaten zu tilgen. Dies gelang jedoch nicht vollständig und daher wissen wir heute, dass Lothar Keiner am 4.8.1942 im Krankenbau des KZ untersucht wurde. Und dort starb er am 27. November 1942; der Sterbeeintrag enthält als Todesursache „Versagen von Herz und Kreislauf bei Magen- und Darmkatarrh“. Es war eine beschönigende und die wahren Gründe vertuschende Formulierung für einen zielgerichteten Vernichtungsprozess.

Lothar Keiner wurde nur 34 Jahre alt

Lothar Keiner war einer von mehreren Tausend Männern, die während der NS-Zeit wegen des Vorwurfes homosexueller Kontakte verfolgt wurden und die Verhöre, Folterungen, Zwangskastrationen, Gefängnis, Zuchthaus und KZ-Deportationen oder Verbringung in Euthanasie-Anstalten nicht überlebten. Diejenigen Homosexuellen, die die NS-Zeit überlebten, wurden nach dem 8. Mai 1945 weiter verfolgt.

Alle CDU-geführten Bundesregierungen zwischen 1949 und 1969 unter Konrad Adenauer, Ludwig Erhardt und dem wegen seiner ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaft und seiner frühen Karriere im NS-Staat heftig kritisierten Bundeskanzler Kiesinger ließen den Strafrechtsparagraphen 175 in der BRD in der verschärften Nazifassung (von 1935) bis zum Jahr 1969 (!!) unverändert bestehen.

Trotz heftigster Attacken von Seiten der katholischen Kirche leitete 1968 der damalige Justizminister und spätere Bundespräsident Heinemann die Reform des Paragraphen in der BRD ein. Die DDR hatte die strafrechtliche Verfolgung bereits in den 50er Jahren eingeschränkt und im Jahr 1968 den §175 gestrichen. Erst nach der Wiedervereinigung und zwar seit 1994 werden homosexuelle Männer in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt: Der Paragraph 175 wurde gestrichen. Jedoch wurden erst 2002 diejenigen Urteile aufgehoben, die während der NS-Zeit mittels § 175 gefällt worden waren (gegen Stimmen aus CDU/CSU und FDP). Erst seit 2002 gilt Lothar Keiner also nicht mehr als Straftäter, er wurde zu Unrecht verurteilt. Erst im Sommer 2017 wurden diejenigen Urteile aufgehoben, die zwischen 1945 und 1969 nach dem Paragraphen 175 in der Nazifassung gefällt wurden und diejenigen Urteile, die nach der Strafrechts- reform zwischen 1969 und 1994 gefällt wurden. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Urteilen nach 1945 schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Aufhebung der Urteile kam und kommt für die meisten Betroffenen, die inzwischen verstarben, und für deren Angehörige, Familien und Freunde (zu) spät.

1944: Das Haus Koststraße 13 wird durch einen Bombentreffer zerstörtAbb.4: Kreuzung Johannastraße/Koststraße in Gelsenkirchen-Horst, 1944. Das Haus Koststraße 13 (im Hintergrund) wird durch einen Bombentreffer zerstört

Der Stolperstein zur Würdigung von Lothar Keiner, von dem Künstler Gunter Demnig verlegt, wird am Mittwoch, den 23. Mai 2018, am letzten freiwilligen Wohnort in Gelsenkirchen-Horst, in Höhe des Hauses Koststr. 13, Ecke Johannastraße verlegt. (Durch massive Kriegszerstörungen existiert das damalige Wohnhaus Helenenstr. 13 nicht mehr. Änderungen der Straßennamen erfolgten ebenso.)

Es ist in Gelsenkirchen der vierte Stolperstein zur Erinnerung an einen in der NS-Zeit wegen homosexueller Kontakte verfolgten Mann. Es wurden bereits Stolpersteine verlegt für Arthur Herrmann und Ernst Papies (beide Cranger Str. in GE-Buer) und Josef Wesener (Südstadt).

Weitere Stolpersteine in Bochum (10), Dortmund (1), Düsseldorf (1), Duisburg (1), Essen (1), Gelsen- kirchen (3), Hattingen (1), Krefeld (1), Kreuztal-Kredenbach/Kreis Siegen (1), Remscheid (3), Solingen (1), Trier (2), Velbert (1), Witten (2) und Wuppertal (2) zur Erinnerung an verfolgte Homosexuelle sind bereits verlegt worden, weitere Stolpersteine werden folgen. Die Initiative, Recherchen und Bericht zum Leben und Tod von Lothar Keiner stammen von Jürgen Wenke, Diplom-Psychologe, Mitbegründer (1980) des gemeinnützigen Vereins Rosa Strippe e.V. und langjähriger Leiter der Bochumer Beratungsstelle für Lesben, Schwule und deren Familien. Wir bedanken uns ausdrücklich bei der Europa-Abgeordneten Frau Terry Reintke (Bündnis 90 / Die Grünen in Gelsenkirchen) für die Übernahme der Patenschaft für den Stolperstein. Ebenso gedankt sei den engagierten MitarbeiterInnen der Stolpersteininitiative in Gelsenkirchen und allen, die die Forschung zum Lebensweg von Lothar Keiner unterstützt haben. Der Sütterlinschreibstube in Hamburg sei gedankt für die Übertragung der handschriftlichen Briefe von Lothar Keiner. "Rosa Strippe" - Beratungsstelle für Schwule und Lesben, Bochum

Anhang

Zum Vergrößern KLICK!Abb.5: Von Lothar Keiner in der Strafanstalt Lingen/Ems geschriebener Brief an seine Mutter Mary Keiner. Zum Vergrößern anklicken.

Von Lothar Keiner konnte kein Foto gefunden werden. Ob Mutter und Bruder in den USA jemals vom Tod ihres Sohnes bzw. Bruders erfuhren, ist ungeklärt. Ebenso, ob möglicherweise Nachkommen von Bruder Oswald Eduard Keiner in den USA leben.

Aufgrund von Zensur in der NS-Zeit finden sich in der überlieferten Gefangenenakte von Lothar Keiner zahlreiche handschriftliche Dokumente, darunter zwei Briefe an seine Mutter Mary Keiner in New York und ein Brief an eine gute Bekannte der Familie, Frau Lotte Möller in Dortmund, die von der Gefängnisleitung einbehalten wurden. Diese Briefe sind hier, übertragen aus der Handschrift, wiedergegeben (PDF). Die Dokumentation "Wir erinnern an Lothar Keiner" steht als PDF-Dokument zum Download bzw. Druck bereit.

Recherche und Text: Diplom-Psychologe Jürgen Wenke

Quellen
Abb.1: Staatsarchiv Niedersachsen, Osnabrück, Rep947LinIINr15404_0052
Abb.2: Ebd., Rep947LinIINr15404_0003
Abb.3: Ebd., Rep947LinIINr15404_0076
Abb.4: Gelsenzentrum e.V.
Abb.5: Staatsarchiv Niedersachsen, Osnabrück, Rep947LinIINr15404_0054

Stolperstein für Lothar Keiner, verlegt am 23. Mai 2018

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Stolpersteine Gelsenkirchen - Lothar Keiner


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. März 2018. Nachtrag 25. Mai 2018

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