Abb.1: Seite aus polnischem Reisepass, ausgestellt 1934 für Rebeka Ständig, geborene Alpern. Zweimal im Verlauf der deutschen Geschichte wurden die Juden gezwungen, ihre Namen zu ändern: Zum ersten Mal durch die Einführung von (oft stigmatisierenden) Familiennamen während der Emanzipation, zum zweiten Mal durch die Einführung der obligatorischen Zusatz-Vornamen Sara für jüdische Frauen und Israel für jüdische Männer (ab 17. August 1938). Auf diese Weise sorgte das Regime für die Ausgrenzung der Juden, deren Identität nun keine Privatsache mehr sein konnte. Wenn der Vorname eines Juden oder einer Jüdin auf einer offiziell abgesegneten Liste stand, wurde kein zusätzlicher Name verlangt. Außerdem verlangte das Regime von Juden, die ihren Familiennamen geändert hatten, um sich anzugleichen und Diskriminierung zu verhindern, ihren vorherigen Namen wieder anzunehmen.
Kaufmann Moses Ständig, geboren am 21. August 1890 in Kolomea/Galizien (In anderen Quellen mit dem "eingedeutschten" Vornamen Moritz - wir verwenden hier in Anlehnung an den Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs den Taufnamen Moses) - war mit Rebeka Alpern, geboren am 18. Februar 1895 in Bukowna, Polen verheiratet.
Moses Ständig eröffnete am 15. März 1919 in der Ewaldstraße 39 in Herten einen Handel mit Manufaktur-, Konfektions- und Schuhwaren. Das Geschäft wurde zum 31. Dezember 1930 geschlossen, wobei die Hintergründe im Dunkeln bleiben. Familie Ständig wechselte auch den Wohnort und zog nach Gelsenkirchen.
Auch Familie Ständig war schon früh dem Antisemitismus aus der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Die so genannten "Ostjuden" rückten dann mit der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 sofort auf deren Agenda. Die "Ostjuden" entsprachen in den Augen des NS-Terrorregimes dessen propagierten antisemitischen Feindbild. Der Plan, die "lästigen Ostjuden" auszuweisen, blieb in rechten Kreisen seit Ende des ersten Weltkrieges aktuell. Erst im Zuge des weiter eskalierenden Antisemitismus vollzog das NS-Regime im November 1938 die massenhafte Ausweisung der "Ostjuden" nach Polen.
Abb.2: Briefkopf Geschäft M. Ständig, Ewaldstr. 39 in Herten
Exkurs: Feindbild "Ostjuden"
Juden aus Osteuropa emigrierten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch nach Gelsenkirchen. Diese Menschen sprachen oft jiddisch, waren häufiger orthodox und trugen dann entsprechende, traditionelle Kleidung. Obwohl die Ostjuden bei einer Gelsenkirchener Gesamteinwohnerschaft von rund 170.000 (um 1919) anteilsmäßig kaum ins Gewicht fielen, fokussierte sich die antisemitische Agitation schon ab Ende 1919 und (in unterschiedlicher Ausprägung) während der gesamten Weimarer Republik auf diese Gruppe.
Das Verhältnis zwischen den eingesessenen jüdischen Deutschen und den "Ostjuden" war zwiespältig und nicht frei von Spannungen. Einerseits übte die ursprüngliche Religiosität der "Ostjuden" auf die jüdischen Deutschen eine gewisse Faszination aus, zugleich erinnerten sie manche an die eigene Herkunft aus Armut und Bedrängnis. Die Alteingesessenen sahen in ihnen verwandte Glaubensgenoss*innen, von denen gerade die Hilfsbedürftigen ihrer Unterstützung und Solidarität bedurften. Andererseits glaubten viele die eigene, mühsam erworbene Assimilierung gefährdet. Denn das auffällige, unangepasste Erscheinungsbild der "Ostjuden" in der Öffentlichkeit war eine bevorzugte Zielscheibe für den während des Ersten Weltkriegs im ganzen Deutschen Reich explosionsartig angestiegenen Antisemitismus.
|
Das erste Kind des Ehepaars Stängig war Sohn Alexander, geboren am 27. November 1917, er kam in Gelsenkirchen-Buer zur Welt. Nachdem die Familie Ständig am 1. April 1919 zunächst nach Herten in die Ewaldstr. 32 gezogen war, wurde Sohn Karl am 3. April 1919 in Herten geboren - ebenso wie Charlotte, geb. am 25. Januar 1921 und Max, geb. am 8. März 1922. Sohn Alexander wurde am 25. Februar 1924, er war demnach 6 Jahre alt, nach Buer abgemeldet. Die Abmeldung der Familie Ständig nach Buer, damalige Essenerstr. 33 (Heutige Horster Straße) erfolgte dann zeitgleich mit Schließung des Geschäftes am 31. Dezember 1930. Moses Ständig arbeitete in der Folge als Kassierer für den jüdischen Kaufmann Willy Süßkind. Einige Monate zuvor, am 12. Juli 1930 starb Rebekas Vater Leib Alpern.
Abb.3: Moses Ständig, Eintrag im Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1934
Nach dem Umzug in das benachbarte Gelsenkirchen-Buer bekam das Ehepaar Ständig weitere Kinder: Lea, geb. am 14. Oktober 1931, Betti, geb. am 13. Juni 1933 und Sabine, geb. am 26. Juni 1934. Das Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1934 verzeichnet Moses Ständig zu dieser Zeit Schievenstr. 43.
Später wohnte auch Rebeka verh. Ständig, geboren am 18. Februar 1895 in Sniatyn/Galizien und ihre Familie in der Dorstener Straße 27 in Gelsenkirchen-Buer. Die Familien Ständig und Alpern waren eng miteinander verbunden. So verzeichnet das Listenmaterial der Jüdischen Kultusgemeinde Gelsenkirchen von 1946 als Wohnanschrift vor der Deportation in das Ghetto Warschau von Rebeka und Sabine Ständig die Dorstener Str. 27. Im Gedenken werden die Familien mit der Verlegung der Stolpersteine symbolisch wieder vereint.
Am 28. Oktober 1938 werden Moses, seine Frau Rebeka, die Kinder Karl, Lea, Betti und Sabine Ständig im Zuge der "Polenaktion" aus Gelsenkirchen nach Bentschen/Zbaszyn abgeschoben. Seither fehlt jedes Lebenszeichen von ihnen. Sabine und ihre Mutter Rebeka hingegen erhielt nach einiger Zeit die Erlaubnis zur Rückkehr nach Gelsenkirchen. Am 31. März 1942 wurden beide mit anderen Jüdinnen und Juden von Gelsenkirchen in das Ghetto Warschau deportiert, sie gehörten nicht zu den Überlebenden.
|
Die Fahrt der Dora / Alija Bet
Neben der offiziellen und damit limitierten Einwanderung nach Palästina, setzten zionistische Organisationen ab Ende der 1930er Jahre verstärkt auch auf illegale Einwanderungsmöglichkeiten. Organisiert wurde das Ganze vom Mossad Alija Bet. Einer der ersten Transporte dieser Art aus Westeuropa war die Fahrt des Dampfers 'Dora', der im Juli 1939 aus den Niederlanden nach Palästina fuhr. Viele der Passagiere waren deutsche Chaluzim, die in den Niederlanden ihre Hachschara absolviert hatten."
|
Die Brüder Alex und Max Ständig flohen 1938 nach Palästina. Charlotte schloß sich den HaBonim an (Als HaBonim bezeichnete sich eine links-zionistische Jugendbewegung, die sich an den Pfadfindern orientierte. Die Organisation wurde 1928 in London gegründet und dehnte sich schnell auf andere Länder aus.) Charlotte absolvierte 1936 einen Hachschara-Kurs in Köln, setzte ihre Vorbereitung 1937 auf dem Lehrgut Ellguth bei Steinau auf ihre Einwanderung nach Palästina fort.
Bei der Minderheiten-Vokszählung zum Stichtag 17. Mai 1939 war ihr Aufenthaltsort das Hachschara-Ausbildungslager in Rüdnitz auf dem "Hof Wecker", auch als "Landwerk" bezeichnet. Charlotte wechselte dann in das landwirtschaftliche Hachscharalager Urfeld (zwischen Köln und Bonn, etwa 50 km von der belgischen Grenze entfernt). Im Juli 1939 wird sie gemeinsam mit weiteren Ausreisewilligen auf mit Planen gedecktem Lastwagen nach Antwerpen gebracht, am 17. Juli 1939 geht sie dort an Bord der "DORA". Charlotte Ständig (später Yael Neuhaus) beschrieb nach dem Krieg dass "die Straße zum belgischen Hafen glatt war und mit Bestechungsgeldern geölt wurde". Die "DORA" erreichte am 12. August 1939 Palästina.
Die Gruppe der Chaluzim (Bezeichnung für die Aktivisten und Aktivistinnen für den Aufbau Palästinas) von der "DORA" werden am Strand von Shefayim in der Nähe von Tel Aviv mit Booten illegal ins Land gebracht. Im Dezember 1939 kam Charlotte in die Stadt Raanana, wo bereits ihr Bruder Alex Ständig arbeitete. Nach der Hochzeit mit Kurt Gideon Neuhaus lebte sie im Kibbuz Gal’ed.
Exkurs: "Polenaktionen" 1938 und 1939
Die Menschen aus den Gebieten von Polen und den Nachbarländern litten unter den frühesten antijüdischen NS-Gesetzen und unter gnadenloser Ausgrenzung. Sie wurden Opfer der ersten Deportation von Juden im Jahr 1938 (1. "Polenaktion") bis zu ihrer Ermordung in den Konzentrationslagern.
Ausbürgerungen, die infolge des am 14. Juli 1933 erlassenen "Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft" erfolgten, trafen vor allem nach November 1918 eingebürgerte Ostjuden. Während die "Nürnberger Gesetze" von 1935 alle jüdischen Einwohner Deutschlands gleichermaßen betrafen, war die reichsweite Ausweisungsaktion vom 28. und 29. Juni 1938 ausschließlich auf Juden polnischer Nationalität ausgerichtet.
Abb.: "Ein schmerzloser Abschied - Ostjüdisches Gesindel verließ spontan Essen". Demütigende Nazi-Karikatur aus der "National-Zeitung" Essen, 29. Oktober 1938
Im Rahmen der im Nazi-Jargon als "Polenaktion" bezeichneten Abschiebeaktion zwischen dem 28. und 29. Oktober 1938 wurden rund 18.000 jüdische Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit, pejorativ als "Ostjuden" bezeichnet, aus dem "Dritten Reich" abgeschoben. Bei im ganzen Reichsgebiet durchgeführten Razzien brutal festgenommen, meist nur mit dem versehen, was die Betroffen auf dem Leib trugen, wurden die Menschen in Sammeltransporten mit der Reichsbahn an die polnischen Grenze verschleppt und dort ins Niemandsland getrieben. In Gelsenkirchen waren etwa 80 jüdische Menschen jeden Alters von der Massenabschiebung betroffen. Einigen wenigen wurde anschließend die Rückreise nach Gelsenkirchen gestattet - sie wurden dann gezwungen, vor Ort bei der "Arisierung" ihres Besitzes "mitzuwirken" - um danach erneut ausgewiesen bzw. später deportiert zu werden. Diese Abschiebeaktion, die im Zusammenspiel von Polizei, Reichsbahn, Finanzbehörden und Diplomatie ablief, stellte einen ersten Höhepunkt der physischen Verfolgung jüdischer Menschen dar und war der eigentliche Auftakt zur geplanten Vernichtung der europäischen Juden.
Es gab mehrere Zielorte für die Abschiebungstransporte – einer der Orte war die polnische Grenzstation Zbaszyn (Bentschen) in der Provinz Posen. Dorthin wurden auch die Betroffenen aus Gelsenkirchen verschleppt. Die meisten der Deportierten (in Zbaszyn zwischen 5.000 und 10.000) mussten monatelang in Ungewissheit ihrer Zukunft unter katastrophalen Bedingungen in Militär-Pferdeställen und einer ehemaligen Mühle hausen. Jüdische Hilfsorganisationen, wie z. B. das American Joint Distribution Com- mittee, unterstützten sie. Manchen der Internierten gestatteten die polnischen Behörden die Weiterreise ins Landesinnere Polens, sofern sie dort Verwandte hatten. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 fielen diese Jüdinnen*Juden jedoch erneut unter deutsche Gewaltherrschaft. Die Mehrzahl der nach Polen ausgewiesenen Menschen wurde später in deutschen Vernichtungslagern ermordet.
|
Die Patenschaft für Rebeka Ständig, geb. Alpern haben Schüler*innen der AG Spurensucher und ein Geschichtskurs der Gesamtschule Buer-Mitte, die Patenschaften für Moses, Alexander, Karl, Charlotte, Max, Lea, Betti und Sabine Ständig hat das Hans-Schwier-Berufskolleg übernommen
Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Oktober 2024.
Quellen:
Hans-Heinrich Holland, Materialien zu einer Geschichte der jüdischen Einwohner Hertens, 1998
Listenmaterial Jüdische Kultusgemeinde GE, v. 4. Juni 1946, betr. Deportation v. 31. März 1942 n. Ghetto Warschau
Franz-Josef Wittstamm, Jüdische Lebensläufe im Vest, Westfalen und anderenorts: https://spurenimvest.de/ (Abruf 10/2024)
Datenbank der in den Jahren 1933 bis 1945 in Gelsenkirchen verfolgten Jüdinnen und Juden: https://www.gelsenkirchen.de/de/stadtprofil/stadtgeschichten/juedische_verfolgte_in_gelsenkirchen_1933-1945/ (Abruf 10/2024)
Gedenkbuch d. Bundesarchiv: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ (Abruf 10/2024)
Mapping the Lives: https://www.mappingthelives.org/ (Abruf 10/2024)
Daniel Abraham, The DORA: http://danielabraham.net/tree/related/dora/ (Abruf 10/2024)
Hachschara als Erinnerungsort: https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ (Abruf 10/2024)
Abbildungen:
1: StadtA Ge, AA -1330
2: Hans-Heinrich Holland, Materialien zu einer Geschichte der jüdischen Einwohner Hertens, 1998
3: Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1934
|