Liebe Mathilde, lieber Fritz, liebe Grete,
heute schreibe ich euch zum ersten Mal einen Brief. Ja, einen Brief! Zuerst dachte ich, dass es gar nicht möglich ist, einen Brief zu schreiben, ihr wisst ja warum. Die Adresse hat sich geändert. Meine eigentliche Frage war, in welchen Briefkasten sollte ich diesen Brief werfen? Wer kann euch diesen Brief überbringen? Gibt es im Himmel eine Post?
Da ich aber glaube, dass ihr Drei heute hier an dieser Stelle anwesend seid, werde ich den Brief laut vorlesen und ihr hört einfach nur zu. Außerdem gehe ich davon aus, dass ihr mich bereits kennt, denn ich habe ja so oft an euch gedacht und mit anderen über euch gesprochen. Vielleicht lieber doch noch einmal zur Erinnerung, Tilla, du bist meine Tante und dein Bruder Fritz ist mein Onkel väterlicherseits und da Fritz die Grete geheiratet hat, so bist du, Grete, also auch meine Tante. Liebe Grete, ich bin jetzt mehr als doppelt so alt, wie du damals warst, damals als das Grauen begann. Du durftest nicht so alt werden, wie ich jetzt bin.
Du bist nur 22 Jahre alt geworden, wie meine jüngste Tochter Anna jetzt ist. Ich mag gar nicht daran denken, wenn....Alles was ich über euch weiß, habe ich aus euren Briefen erfahren, die Tante Hilde, neben einigen Fotografien, 67 Jahre verwahrt hat. Ich weiß, liebe Tilla, so haben dich alle genannt, du bist die Älteste der 15 Geschwister, ...ich weiß, ...dass du der Mittelpunkt der Familie gewesen bist, dass du dich um alle gekümmert hast, deine Tür stand für alle offen, hier in der Theresienstraße 6, die jetzt Kolpingstraße heißt. Du bist deiner Schwester Hilde eine zweite Mutter gewesen. Stell dir vor, unser Hildchen, dein Idelchen, ist jetzt schon 94 und wohnt in Arizona, nicht mehr in Holland, von wo aus sie dir immer geschrieben hat.
Du hast dich um die Mama, meine Oma Fanni, gekümmert (Dafür bist du immer nach Madfeld gefahren, dort in Madfeld seid ihr alle 15 geboren, auch der Fritz). Du hast Willi, deinen Mann, zu Grabe getragen, der 1941 an Krebs gestorben ist, er liegt hier auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen. Und vor allen Dingen, du hast deine Gedanken, deine Ängste und deine Hoffnungen in deinen Briefen nieder geschrieben.
Nun zu euch, lieber Fritz und liebe Grete, ihr ward so jung, ihr wolltet unbedingt heiraten, Tilla fand es wohl nicht so gut, das mit der Heirat... dennoch habt ihr auch oben in der Mansarde in der Theresienstraße 6 gewohnt. Als ihr noch nicht verheiratet ward, wolltest du, liebe Grete, nach Palästina und hast dich dafür in der Landwirtschaft ausbilden lassen.
Nach der Hochzeit war aber klar, dass es gemeinsam nach Amerika gehen sollte, zu Fritz' Schwester Lina, die mit ihrer Familie in Chicago wohnte, und deine Eltern, Dora und Siegfried Löwenstein aus Syke bei Osnabrück, haben euch in allen Dingen unterstützt. Dann als alles viel schlimmer wurde, wolltet ihr nach Panama, und als alles gar nicht mehr so richtig ging, wolltet ihr auf die Philippinen, eure Reise führte euch ganz woanders hin... nach Riga...nach Stutthof, zusammen mit Tilla...und dort...und dort... musstet ihr sterben...alle so jung...
Was erzähl ich euch das alles, ihr habt es ja selbst erleiden müssen, ich kann nur sagen, ich werde dafür Sorge tragen, dass man euch nicht vergisst...versprochen...wie es im Talmud steht: Zachor w-shamor b,dibur echad - Erinnere dich und halte das Gedenken lebendig. Nun seid ihr da oben schon seit 64 Jahren und ich hier unten, gedenke eurer gemeinsam mit anderen Menschen.
PS: Ich soll euch von Tante Hilde grüßen und von Elfriede und Edith, die ich ja 2004 in Arizona besucht habe, alle anderen habt ihr ja bestimmt schon bei euch da oben getroffen!
Bitte grüßt mir meinen Papa und wenn möglich auch meine Mama.
Eure Esther
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